Menschenrechtler auf See
Jordi Èvole aus „Salvados“dreht Dokumentarfilm über Rettungsschiff für Flüchtlinge vor Libyscher Küste
Nichts ist mehr, wie es war. Was früher Idylle war, ist heute Auslöser von Wut, Ängsten, Ratlosigkeit. Die Rede ist vom Blick aufs Mittelmeer – nach Beginn der großen Migrationskrise. Egal, welche Meinung zu deren Ursachen und Lösungen vertreten wird: Kalt lässt dieser Blick kaum einen mehr.
Einer, der sich mit dem Nerv der Gesellschaft bestens auskennt, ist Jordi Évole. Im erfrischenden TV-Format „Salvados“auf dem Sender La Sexta ergründet er seit Jahren Themen, die Spanien bewegen – erntet Lacher, viel Lob, und so manche Drohung. Nur gleichgültig lässt auch er keinen Zuschauer zurück.
Nun hat sich Évole dem Migrationsthema angenommen – und das im großen Stil. Mit dem „Salvados“-Team drehte er „Astral“, eine Dokumentation über ein gleichnamiges Rettungsschiff vor der libyschen Mittelmeerküste. Der „Michael Moore Spaniens“, wie ihn die New York Times tauf-
„Was, wenn es anstelle von Schwarzen, die fliehen, Weiße im Sommerurlaub wären?“
te, begleitete an Bord der Astral die Helfer von Proactiva Open Arms – einer Nichtregierungsorganisation, die sich der Seenotrettung von Flüchtlingen verschrieben hat.
Einer der Protagonisten der Doku ist Óscar Camps. Bewegt von den angeschwemmten Kinderleichen in der Ägäis gründete er Proactiva. Erst half er in Auffanglagern in Griechenland – nach dem EU-Türkei-Abkommen zog es ihn zu den neuen Migrationsrouten.
Doch für diese, die quer durchs Mittelmeer führen, brauchte er ein Schiff. Ein solches hatte der italienische Matratzenfabrikant Livio Lo Monaco. Auch er sah die toten Kinder in den Nachrichten, auch er wollte mehr tun als nur zuschauen.
Lange schon schaukelte Lo Monacos Luxussegler „Luis Ginillo“in einem Hafen der Provinz Granada vor sich hin. Angesichts der Krise beschloss der Unternehmer, ihn Menschen zu geben, die damit umgehen konnten. Nicht zur Erholung des eigenen – sondern zur Rettung anderer Menschen Lebens.
Die Mannschaft um Camps machte sich an die Renovierung des 30-Meter-Boots. Aus edlen
Kajüten wurden Krankenstationen. Neue Funkgeräte wurden für die Kommunikation mit anderen Organisationen installiert. 300.000 Euro kostete der Umbau – möglich machten ihn Spenden.
Seit dem Sommer kreuzt die Astral als rettender Stern auf dem Gewässer, auf dem laut Internationaler Organisation für Migration in diesem Jahr 3.200 Menschen ihr Leben verloren haben. In Tag- und Nachtschichten ortet die Mannschaft meist überfüllte Boote und versorgt Menschen, die stundenoder tagelang übers Meer getrieben sind.
Horror der Meeresüberquerung
Seid ihr Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge? Vorab gesagt, diese Frage wird den Bootsinsassen im Film nicht gestellt. Stattdessen: „Wie viele Kinder habt ihr dabei? Gibt es Schwangere an Bord?“, erklingen die Rufe eines Helfers. Zehn Frauen, vier von ihnen schwanger, und sieben Kinder – so die Antwort vom schwankenden Holzboot.
Mittendrin im Geschehen ist Jordi Évole, der gerade auch die Geretteten zu Wort kommen lässt. Die den Horror einer Meeresüber- querung bei Nacht, ohne Essen und Trinken, gerade erlebt haben. Schon am ersten Morgen auf dem Schiff wird der Journalist Zeuge, wie Camps und Co. 600 Flüchtlinge betreuen und 130 an Bord bringen.
Unvergessen auch ein Juli-Tag mit Traumwetter, an dem plötzlich ein Gummiboot mit 120 Insassen am Horizont auftaucht. „Was würden wir alles in Bewegung setzen, wenn es statt Schwarzer, die fliehen, Weiße im Sommerurlaub wären“, twitterte er damals von Bord.
Eindeutig ist Évoles Bestreben, die Erlebnisse zum Zuschauer zu transportieren. Ihn aus der Lethargie zu wecken. Mit versteckter Kamara filmte Évoles „Salvados“Team ein Fernrohr auf einer Mittelmeer-Promenade. Wenn Passanten durchsahen, erblickten sie statt blauem Horizont Flüchtlingsboote – dramatische Szenen aus „Astral“.
Bezeichnend die Reaktionen in dem „Wenn das Drama näher dran geschieht, als es scheint“betitelten Clip. Ein konsternierter Tourist: „Ich bin es gewohnt, die Bilder in den Nachrichten zu sehen, aber hier erwartete ich sie nicht.“
Frage nach dem Menschsein
Nein, die ganz kniffligen Fragen umgeht Évoles Film. Wie die Heimat der Geretteten zu reparieren ist – damit sie gar nicht fliehen müssen. Wie die eingewanderte Vielzahl in Europa integriert werden kann. Die Frage, die die Doku jedoch sehr wohl wie ein roter Faden durchzieht, ist die nach dem Menschsein: Welche Kriterien muss jemand erfüllen, um das Recht zu erlangen, beachtet und gerettet werden zu können?
Der TV-Sender La Sexta hat die baldige Ausstrahlung des Dokumentarfilms angekündigt.