Ein rätselhaftes Volk
Erster Staat mit Steuersystem und Klassengesellschaft in Westeuropa: Aufstieg und Fall der El-Argar-Kultur an der Küste
Wie lebten die Menschen vor mehr als 4.000 Jahren an der Küste im Südosten von Spanien? Ein Blick in die Vergangenheit gibt Aufschluss und birgt Überraschendes. Im Mittelpunkt steht die rätselhafte El-Argar-Kultur aus der Bronzezeit mit ihren Höhensiedlungen La Bastida, La Almoloya und Tira del Lienzo in der Region Murcia. Der Professor für Archäologie an der Autonomen Universität von Barcelona (UAB), Roberto Risch, bezeichnet die Ausgrabungsstätten als Sensation, als Jahrhundert-Funde. „Die Siedlungen sind so außergewöhnlich gut erhalten, dass wir uns das Leben vor 4.000 Jahren vorstellen können.“
Seit 2007 leitet er gemeinsam mit einer Gruppe von Wissenschaftlern die Grabungen und beschreibt die Kultur als eigenartige Gesellschaft. „Die Menschen kamen 2200 vor unserer Zeitrechnung in die Region und ließen sich im Gebiet zwischen Vera in Almería und der Stadt Murcia nieder“, sagt Roberto Risch. „Nach nur 400 Jahren hatten sie sich bereits über ganz Südostspanien von Alicante bis Granada ausgebreitet und die erste staatliche Organisation in Westeuropa geschaffen. 1550 vor Christus verschwanden sie plötzlich.“ Die Wissenschaftler wissen zwar, wann und wie die El-Argar-Kultur entstanden ist, aber nicht, woher die Menschen kamen. „Die Analysen sind nicht eindeutig. Sie könnten aus dem Balkan und dem östlichen Mittelmeer gekommen sein oder von der Iberischen Halbinsel selbst stammen“, so Risch. „Vermutlich stimmt beides.“
2200 vor Christus herrschte eine Zeit des Umbruchs. Das alte Reich in Ägypten ging unter. In Griechenland, Anatolien und Palästina wurden Städte abgebrannt und aufgegeben. „Es kann gut sein, dass die Menschen auf der Flucht nach Almería und Murcia gelangten, wo sie zusammen mit der einheimischen Bevölkerung ein völlig neues System entwickelten“, sagt Roberto Risch.
Die Neuankömmlinge bauten nicht einfach nur Hütten. Sie siedelten gezielt auf Hügelkuppen, gut verborgen und einfach zu verteidigen, wie La Bastida bei Totana. „Wir nennen La Bastida auch La Ciudad Escondida, die verborgene Stadt. Sie ist vom Tal aus nicht zu sehen.“Um La Bastida wurde eine mächtige Verteidigungsmauer errichtet.
„Die Mauer mit ihren über vier Meter hohen Türmen ist sagenhaft gut erhalten“, schwärmt der Archäologe. „Die gesamte Anlage hat über 650 Jahre standgehalten. Die Menschen haben in dieser Zeit nie außerhalb der Mauer gelebt. Die Stadt war mit einer Fläche von fünf Hektar groß genug für rund 1.000 Bewohner.“
Die Menschen lebten in 60 bis 70 Quadratmeter großen Häusern, die zum Teil zweistöckig waren. Sie stellten qualitativ hochwertige Keramik her, obwohl es noch kei- ne Drehscheiben gab. „Die Gefäße waren hochglänzend, als wären sie aus Metall gefertigt“, sagt Risch. Von Bedeutung waren ebenfalls Metalle und ihre Verarbeitung, überwiegend Bronze, sowie die Textilherstellung.
Aufschluss über das Leben und die Gesellschaftsform der El-Argar-Kultur geben vor allem die Gräber und ihre Beigaben. Der Kultur eigen waren Hausbestattungen. Wurden den Toten Waffen, Silber- und Goldschmuck beigelegt, kamen sie aus besseren Kreisen. „Die Gesellschaft war in drei soziale Klassen aufgeteilt“, erklärt Roberto Risch. „Etwa zehn Prozent gehörten der Elite an, 50 Prozent der Mittelschicht, und 40 Prozent waren Sklaven und Diener.“
Aus den Gräbern konnten die Archäologen ablesen, dass die Frau eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft und Wirtschaft spielte. „Frauen der Mittel- und Oberschicht wurden mit wertvollen Pfriemen bestattet.“Dabei handelt es sich um Stechwerkzeuge für die Textilverarbeitung. „Die Kleidung der Aristokratie und der Mittelklasse bestand aus Leinengewändern, die damals ein wertvolles Gut darstellten.“
In La Bastida wohnten Angehörige der Elite, des Militärs und Handwerker. Hinweise auf Landwirtschaft und Viehzucht wurden nicht gefunden. Die Stadt war von steilen Hängen umgeben, die das Anlegen von Feldern unmöglich machten. „Die Grundnahrungsmittel wie Gerste, Rind- und in geringerem Maße auch Schaf- und Ziegenfleisch mussten also in dem fruchtbaren Guadalentín-Tal bei Lorca, Totana und Mazarrón produziert und dann in die Stadt geliefert werden“, sagt Roberto Risch. Nahe der Gerstenfelder gruben die Archäologen eine kleine Siedlung aus. „Tira del Lienzo war nur 865 Quadratmeter groß und bestand aus mehreren Lagerhallen und einem großen Getreidespeicher“, erklärt der Wissenschaftler. „Hier wurden die Produkte gelagert, um in die Stadt transportiert zu werden.“Tira del Lienzo war gleichzeitig eine Art Steueramt, das das
La Bastida war die Stadt, La Almoloya der Palast und La Tira del Lienzo war das Steueramt