Entlang der Küste des Lichts
Wer sich an der Atlantikküste treiben lässt, kann viele schöne Ortschaften und gastronomische Spezialitäten kennenlernen
Andalusien ist groß, Andalusien ist vielfältig. Es locken weiße Dörfer mir friedvollem Ambiente, Städte mit uralter Historie, Naturparks mit mächtigen Korkeichen und am Himmel kreisenden Adlern und Geiern, gigantische Aussichten und kübelweise authentische Lebensart. Wer sich am Meer langweilt, erobert die Landschaften im Landesinneren oder taucht in die spannende Geschichte des Al-Andalus ein, und wer den obligatorischen Staus auf der MittelmeerAutobahn und der sehr geschäftigen Costa del Sol entfliehen will, verkrümelt sich an die Atlantikküste, an der die Bauwut vergangener Jahrzehnte weniger Schaden angerichtet hat. Dort scheinen die Strände endlos zu sein, und in der Vor- und Nachsaison sind sie kaum besucht.
An der Atlantikküste kann man sich wunderbar treiben lassen. Nicht nur, weil der Wind rund um Tarifa oft einige Stärken mehr drauf hat – was von Surfern, die mit prall geblähten Segeln über stürmische Wellen brettern, geschätzt wird –, sondern auch, weil es viele reizvolle Orte gibt, die einen Besuch lohnen. Je mehr man sich von der Meerenge von Gibraltar an der Costa de la Luz entlang nördlich bewegt, umso andalusischer wird es. Das merkt man nicht nur daran, dass die mühselig erworbenen Spanischkenntnisse plötzlich wie aus heiterem Himmel zu verblassen scheinen, auch die Musik, mit der Bar- oder Restaurantbetreiber ihre Gäste berieseln, verändert sich. Was Techno-, House-, Chillout- und Loungemusik für Ibiza sind, ist der Flamenco für Andalu- sien. Und dieser wird vor allem in dieser Gegend leidenschaftlich geliebt und in Szene gesetzt. Auch das gastronomische Angebot kann sich sehen lassen: Der Fisch, der auf den Teller kommt, schmeckt fast immer, als wäre er gerade aus dem Atlantik gehüpft. Und etwa ab Cádiz sollte sich der Reisende auf eine unterhaltsame kulinarische Schnupperreise einlassen und im ganz privaten Andalusien-Reiseführer das interessante Kapitel der traditionellen Getränke aufschlagen.
Endlich zu erfahren, dass Manzanilla nicht unbedingt etwas mit dem gesunden Kamillentee zu tun haben muss, sondern eine besondere Art des trockenen Sherrys ist, kann eine bahnbrechende Erfahrung sein. Diese Art des Fino (dt.: der Feine) wird ausschließlich im Hafenort Sanlúcar de Barrameda unweit der Naturenklave Doñana gekeltert. Die Basis des gern als Aperitif getrunkenen Gesöffs, ist die Palomino-Traube, die dank der Küstenlage einen typischen, leicht salzigen und oft zartbitteren Geschmack hat.
Der Boden und die klimatischen Bedingungen rund um Cádiz haben die Gegend schon vor Jahrhunderten zur Wiege des Sherrys gemacht, nicht umsonst trägt das Gebiet zwischen Chiclana de la Frontera, El Puerto de Santa María und Sanlúcar de Barrameda den Beinamen Sherry-Dreieck. Wer die diversen Varianten kennenlernen will, sollte sich Zeit nehmen. In Chipiona beispielsweise, einem charmanten Touristenort südlich von Sanlúcar de Barrameda, lassen sich beste Studien rund um den Moscatel de Pasas machen, ein süßer mahagonifarbener Sherry, der heute selten ist, weil die MoscatelTrauben nach der Ernte ganz traditionell in der Sonne getrocknet werden. Ob süß oder trocken, der Sherry, der in den typischen schmalen, leicht bauchigen Gläsern kredenzt wird, entfaltet inmitten seines Anbaugebiets ein noch intensiveres Aroma.
Auf der Suche nach der richtigen Bodega schöpft der Besucher endlose Informationen aus den Internetseiten der Gemeindeverwaltungen und Reiseführern. Vom Weinmuseum über Traditionsweingüter, die kulturelles Erbe sind, bis hin zu den urigen Bodegas, die man zufällig in den Gassen findet – in dieser Region scheinen die Möglichkeiten der Verkostung fast unbegrenzt.
Inmitten seines Anbaugebiets entfaltet der Sherry ein noch intensiveres Aroma
In der Bodega El Castillito in Chipiona sitzen einige Männer vor dem Fernseher und verfolgen ein Fußballspiel, in Konkurrenz zum engagierten Kommentator des runden Balls dringen FlamencoRhythmen aus den Lautsprechern der Musikanlage. Ansonsten hat sich diese Kneipe seit ihrer Eröffnung vor 40 Jahren modernem Schnickschnack erfolgreich widersetzt: Weiße Wände, hohe Decken, Rundbögen, einfache Holzstühle, -tische und -theke, Zementboden, an den Wänden gerahmte Plakate kultureller Events vergangener Jahre. Vom winzigen Innenhof aus erhascht der Gast einen Blick auf den Himmel und die Mauern der Burg, bei seinem Gang zur Toilette wird er ungeniert von Schwalbenbabys beäugt, die den regen KloBetrieb vom sicheren Nest aus neugierig verfolgen. Weiße Tischdecken und einen Michelin-Stern muss der Gast in dieser Bodega nicht erwarten. Aber wer hier ganz unbedarft einen Moscatel bestellt, der für diese Region so typisch ist, wird mit der freundlichen Frage in Verwirrung gestürzt, welche Sorte es denn bitte sein soll. Auch bei der Wahl der Tapas hat es der Neuling schwer: Soll es der würzige Käse sein, der Jamón Serrano oder eine traditionelle Wurstsorte? Oder doch der köstliche Thunfischschinken (Mojama), der mit einigen Tropfen besten Olivenöls beträufelt wird? Dieses Lokal ist ein Muss für alle, die Originalität mögen. Obendrein hat Chipiona schöne Strände und Dünengebiete, und was die Geschichte angeht, muss sich die 19.000-Seelen-Ortschaft nicht hinter anderen andalusischen Gegenden verstecken. Im Laufe der Jahrtausende haben sich am Mündungsdelta des Flusses Guadalquivir unterschiedliche Völker getummelt, Griechen, Phönizier, Karthager oder Römer schätzten die strategisch günstige Lage. Archäologische Zeitzeugnisse aus der römischen Epoche sind im gesamten Gemeindegebiet zu finden, wie in Las Canteras, El Olivar, El Paraqué, Montijo oder La Loma Alta.
Als Sightseeing-Attraktionen sind außerdem der Leuchtturm von Chipiona aus dem Jahr 1867 gelistet, der mit seinen 322 Stufen und 69 Metern als höchster Spaniens gilt, oder das Sanktuarium Nuestra Señora de la Regla, das einst Festung war und im 14. Jahrhundert von Augustinermönchen zum Kloster umgebaut wurde. Heute wird das Gotteshaus von Franziskanermönchen betreut. Auch die Kapelle El Humilladero, in der ein Bildnis der Heiligen María Vírgen de Regla, die Schutzpatronin der Ortschaft, untergebracht ist, zieht Gläubige und Urlauber an.
Sanlúcar und die Naturenklave Doñana liegen nur einen Steinwurf entfernt, bis Jerez de la Frontera sind es knapp 20 Minuten, bis Cádiz eine Stunde und nach Sevilla etwa anderthalb. Es gibt endlos viele Gründe, Chipiona einen Besuch abzustatten. Andalusien ist groß, Andalusien ist vielfältig.