Costa del Sol Nachrichten

Zerreißpro­be in Katalonien

Seit 2012 legt die Unabhängig­keitsbeweg­ung in Katalonien an Kraft zu – Jetzt kommt es zum Showdown mit Madrid

- Thomas Liebelt Barcelona

Obwohl die spanische Regierung mit immer härteren Bandagen vorgeht, wollen die Separatist­en in Katalonien am 1. Oktober ihr Referendum über die Unabhängig­keit der Region abhalten. Der Machtkampf zwischen Barcelona und Madrid hält das ganze Land in Atem. Dabei gingen bereits am 11. September 2012 zwei Millionen Menschen mit „Goodbye Spain“Plakaten auf die Straße. Mariano Rajoy schaute zu, die Masse wurde lauter.

„Es ist, als ob zwei Züge aufeinande­rzurasen!“Dieses Bild hat die Zeitung „El País“schon vor fünf Jahren benutzt, um die Situation zwischen Madrid und Katalonien zu beschreibe­n. Dieses Bild benutzt „El País“noch heute – was auch zum Ausdruck bringt, was sich in der Zwischenze­it getan hat. Nämlich so gut wie nichts. Bis zum Crash der beiden Züge am 1. Oktober sind es nur noch wenige Tage. Dann wollen die Separatist­en in Katalonien ihr Referendum über die Unabhängig­keit der Region abhalten wollen.

Wollen wohlgemerk­t. Ob die Abstimmung denn stattfinde­t, bleibt angesichts der Verhinderu­ngsstrateg­ie der Zentralreg­ierung wohl bis zum Schluss offen. Der Machtkampf zwischen Barcelona und Madrid, der zuletzt mit immer härteren Bandagen geführt wurde, hält das ganze Land in Atem. Weil sich beide Seiten in ihrem Starrsinn verrannt haben. Und weil, wie es der Sozialist und frühere katalanisc­he Ministerpr­äsident José Montilla im Interview mit „El País“meint, „Rajoy beim Thema Katalonien fünf Jahre lang Urlaub genommen hat“.

Dabei müsste die Regierung Rajoy spätestens vor ziemlich genau fünf Jahren gewusst haben, was die Stunde geschlagen hat. Denn am 11. September 2012 geriet die innenpolit­ische Welt in Spanien aus den Fugen: An jenem Tag, an dem Katalonien alljährlic­h der Kapitulati­on Barcelonas vor den Truppen Philipp V. im Jahre 1714 gedenkt, gehen über zwei Millionen Menschen – und nicht mehr nur ein paar tausend Radikale – in der Landeshaup­tstadt auf die Straße. „Goodbye Spain“heißt es auf Plakaten.

So etwas hatte es in Barcelona an „La Diada“, wie der Feiertag heißt, noch nie gegeben. Bislang kam der katalanisc­he Nationalis­mus in seiner gemäßigten Ausprägung nicht unbedingt antispanis­ch daher. Er war zwar auf Eigenständ­igkeit bedacht, aber keineswegs auf Abspaltung. Auch der frühere Ministerpr­äsident und Vorsitzend­e von Convergènc­ia i Unió (CiU), Jordi Pujol, der die Region von 1980 bis 2003 regierte, hatte einst gesagt: „Eine Unabhängig­keit Katalonien­s ist fast unmöglich.“

Doch plötzlich wehte an vielen Wohnungen in Katalonien die „Estelada“mit ihren vier roten Streifen samt Stern auf gelbem Grund, die Flagge für ein unabhängig­es Katalonien. Bei den Heimspiele­n des FC Barcelona im Camp Nou skandierte­n 100.000 Kehlen „Independèn­cia!“(Unabhängig­keit) und rollen riesige Transparen­te aus. Es war offenkundi­g: Die Separatist­en unter den 7,6 Millionen Katalanen waren keine Minderheit mehr.

Umfragen zu jenem Zeitpunkt ergaben, dass um die 50 Prozent der Katalanen sich für einen eigenen Staat ausspreche­n. Über 70 Prozent befürworte­ten, dass über diese Frage in einer Volksbefra­gung entschiede­n werden sollte. An diesem Verhältnis hat sich nur wenig geändert. Mal geht es ein bisschen rauf mit der Zustimmung pro Unabhängig­keit, mal ein bisschen runter. Dass die Katalanen aber per Referendum gefragt werden wollen, dafür gibt es nach wie vor eine satte Mehrheit.

Der Knackpunkt: 9. Juli 2010

Im Regionalpa­rlament in Barcelona spiegelte sich der nationale Impetus damals noch nicht wider. Separatist­ische Parteien kamen gerade mal auf 14 der insgesamt 135 Sitze. Heute haben sie mit 72 Sitzen die absolute Mehrheit inne.

Was war der Knackpunkt, der diesen Stimmungsu­mschwung auslöste? Auch hier lässt sich ein Datum festmachen: Es ist der 9. Juli 2010. An jenem Tag veröffentl­ichte das Verfassung­sgericht in Madrid nach vierjährig­er Beratung ein 881 Seiten umfassende­s Urteil über das neue Autonomies­tatut für Katalonien. Zuvor hatten die Katalanen per Referendum ihrer neuen Landesverf­assung mit großer Mehrheit zugestimmt.

14 Artikel des Statuts hielten die Richter für ungültig, 27 Passa-

gen wurden umformulie­rt. Riesenjube­l bei der damals opposition­ellen Volksparte­i (PP) unter Mariano Rajoy, die 2006 Verfassung­sbeschwerd­e eingelegt hatte. Die Regierung von Ministerpr­äsident José Luis Zapatero, die das Verhältnis Zentralreg­ierung-Katalonien auf eine neue, zeitgemäße Basis stellen wollte, war mit ihrer Autonomiep­olitik am konservati­ven Widerstand gescheiter­t. Die PP sah sich als kompromiss­lose Hüterin der Einheit der Nation Spanien und der Verfassung von 1978.

Der Frust sitzt jetzt tief

„Das Urteil des Verfassung­sgerichts hat gezeigt, dass Spanien uns als Katalanen nicht haben will“, sagte damals Carme Forcadell über ihren Frust. Die heutige katalanisc­he Parlaments­präsidenti­n, die als Vorsitzend­e des Katalanisc­hen Nationalko­ngresses (ANC) die Kundgebung am 11. September 2012 organisier­t hatte, war fortan eine der vehementes­ten Verfechter­innen einer Trennung von Spanien.

Auch der aktuelle katalanisc­he Regierungs­chef Carles Puigdemont sieht den 9. Juli 2010 als Ausgangspu­nkt für die aktuelle Entwicklun­g in Katalonien: „Es war ein Einschnitt, als das Verfassung­sgericht auf Betreiben der jetzt in Madrid regierende­n konservati­ven Volksparte­i vor sieben Jahren das Autonomies­tatut für Katalonien für ungültig erklärt hat, obwohl dieses bereits vom Parlament und auch vom König akzeptiert worden war. Für die Katalanen bedeutete der Schritt, dass sie sich erneut von Madrid zurückgese­tzt fühlten“, sagte Puigdemont dieser Tage im Interview mit der „Süddeutsch­en Zeitung“.

Die CiU-Regionalre­gierung aber wurde damals im September 2012 von der Welle nationalen Überschwan­gs überrollt – und wohl ein bisschen auf dem falschen Fuß erwischt. Denn gerade erst hatte das hochversch­uldete Katalonien vom Zentralsta­at finanziell­e Hilfe in Höhe von fünf Milliarden Euro erbettelt. Doch Ministerpr­äsident Artur Mas wollte auf der Welle surfen und als Trumpf gegenüber Madrid ausspielen.

Eine Woche später ließ Rajoy den Katalanen abblitzen. Den von Mas gewünschte­n Fiskalpakt, der die Steuerzahl­ung der Region an den Zentralsta­at mindern würde, werde es mit der Volksparte­i nicht geben. Mit der klaren Absage im Gepäck kehrte Mas nach Barcelona zurück. „Eine historisch­e Chance wurde verpasst“, sagte er vor Anhängern. Von nun an sollten sich die Ereignisse beschleuni­gen und eine Eigendynam­ik entwickeln.

Der von Rajoy abgebügelt­e Mas, ansonsten ein eher kühl und pragmatisc­h denkender Politiker, nahm nun eine radikalere Position ein. Er setzte Neuwahlen für den 25. November 2012 an und ließ sich vom Regionalpa­rlament Rückendeck­ung geben für ein Unabhängig­keitsrefer­endum in der kommenden Legislatur­periode. Notfalls gegen den Willen der Zentralreg­ierung. „Der Prozess ist nicht mehr aufzuhalte­n“, sagte Mas.

Madrid warnte Mas: Ein Referendum über die Unabhängig­keit Katalonien­s verstoße gegen die Verfassung. Und Vizeregier­ungschefin Soraya Sáenz de Santamaría machte deutlich: „Es gibt ausrei- chende Mittel, ein Referendum in Katalonien zu verhindern, und wir werden uns nicht scheuen, sie anzuwenden.“

Rajoy nannte die Referendum­spläne einen „kolossalen Unsinn“und ein „Schmierens­tück“. Bis heute hat sich an der Wortwahl nichts geändert. Saénz de Santamaría nannte Mas einen „Geisterfah­rer“. Bildungsmi­nister José Ignacio Wert äußerte, er wolle mit seiner geplanten Schulrefor­m die katalanisc­hen Schüler „hispanisie­ren“– und weckte Erinnerung­en an die Franco-Zeit. Nur, um wenig später zu äußeren: „Ich bin stolz auf das, was ich gesagt habe.“

Plötzlich eine dritte Front

So goss die Regierung in Madrid Öl ins lodernde Nationalis­musFeuer. Dabei konnte Rajoy die Separatism­us-Debatte nicht gebrauchen. Es war wie eine dritte Front, die plötzlich aufgemacht wurde. Die Wirtschaft steckte tief in der Rezession. Nicht auszuschli­eßen war im September 2012, dass Spanien vollständi­g unter den EuroRettun­gsschirm schlüpfen musste. Hinzu kam, dass der soziale Frieden dahin war. Am 14. November 2012 sah sich die Regierung mit dem zweiten Generalstr­eik gegen die Sparpoliti­k in jenem Jahr konfrontie­rt. Und nun das Streben nach Eigenstaat­lichkeit in Katalonien.

Der Schwung, den der Separatism­us erhalten hatte, war auch ein Ausdruck der Krise. Er folgte dem Muster reicher Norden und armer Süden. Die beiden wirtschaft­lich starken Regionen Katalonien und Baskenland erwirtscha­ften über ein Viertel des spanischen Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP). Vor allem das damals mit 44 Milliarden Euro

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Foto: dpa Die Katalanen wollen hoch hinaus: Selbst beim Stadtfest La Mercè in Barcelona kommt der Menschentu­rm nicht ohne die katalanisc­he Flagge aus.
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Foto: Andrea Dalmau/dpa Der Nationalis­mus frisst den Vorreiter: Artur Mas muss Platz machen und übergibt an Carles Puigdemont.
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Foto: dpa Separatist­en halten aus Protest gegen Madrid die alte Uni in Barcelona besetzt.

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