Zerreißprobe in Katalonien
Seit 2012 legt die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien an Kraft zu – Jetzt kommt es zum Showdown mit Madrid
Obwohl die spanische Regierung mit immer härteren Bandagen vorgeht, wollen die Separatisten in Katalonien am 1. Oktober ihr Referendum über die Unabhängigkeit der Region abhalten. Der Machtkampf zwischen Barcelona und Madrid hält das ganze Land in Atem. Dabei gingen bereits am 11. September 2012 zwei Millionen Menschen mit „Goodbye Spain“Plakaten auf die Straße. Mariano Rajoy schaute zu, die Masse wurde lauter.
„Es ist, als ob zwei Züge aufeinanderzurasen!“Dieses Bild hat die Zeitung „El País“schon vor fünf Jahren benutzt, um die Situation zwischen Madrid und Katalonien zu beschreiben. Dieses Bild benutzt „El País“noch heute – was auch zum Ausdruck bringt, was sich in der Zwischenzeit getan hat. Nämlich so gut wie nichts. Bis zum Crash der beiden Züge am 1. Oktober sind es nur noch wenige Tage. Dann wollen die Separatisten in Katalonien ihr Referendum über die Unabhängigkeit der Region abhalten wollen.
Wollen wohlgemerkt. Ob die Abstimmung denn stattfindet, bleibt angesichts der Verhinderungsstrategie der Zentralregierung wohl bis zum Schluss offen. Der Machtkampf zwischen Barcelona und Madrid, der zuletzt mit immer härteren Bandagen geführt wurde, hält das ganze Land in Atem. Weil sich beide Seiten in ihrem Starrsinn verrannt haben. Und weil, wie es der Sozialist und frühere katalanische Ministerpräsident José Montilla im Interview mit „El País“meint, „Rajoy beim Thema Katalonien fünf Jahre lang Urlaub genommen hat“.
Dabei müsste die Regierung Rajoy spätestens vor ziemlich genau fünf Jahren gewusst haben, was die Stunde geschlagen hat. Denn am 11. September 2012 geriet die innenpolitische Welt in Spanien aus den Fugen: An jenem Tag, an dem Katalonien alljährlich der Kapitulation Barcelonas vor den Truppen Philipp V. im Jahre 1714 gedenkt, gehen über zwei Millionen Menschen – und nicht mehr nur ein paar tausend Radikale – in der Landeshauptstadt auf die Straße. „Goodbye Spain“heißt es auf Plakaten.
So etwas hatte es in Barcelona an „La Diada“, wie der Feiertag heißt, noch nie gegeben. Bislang kam der katalanische Nationalismus in seiner gemäßigten Ausprägung nicht unbedingt antispanisch daher. Er war zwar auf Eigenständigkeit bedacht, aber keineswegs auf Abspaltung. Auch der frühere Ministerpräsident und Vorsitzende von Convergència i Unió (CiU), Jordi Pujol, der die Region von 1980 bis 2003 regierte, hatte einst gesagt: „Eine Unabhängigkeit Kataloniens ist fast unmöglich.“
Doch plötzlich wehte an vielen Wohnungen in Katalonien die „Estelada“mit ihren vier roten Streifen samt Stern auf gelbem Grund, die Flagge für ein unabhängiges Katalonien. Bei den Heimspielen des FC Barcelona im Camp Nou skandierten 100.000 Kehlen „Independència!“(Unabhängigkeit) und rollen riesige Transparente aus. Es war offenkundig: Die Separatisten unter den 7,6 Millionen Katalanen waren keine Minderheit mehr.
Umfragen zu jenem Zeitpunkt ergaben, dass um die 50 Prozent der Katalanen sich für einen eigenen Staat aussprechen. Über 70 Prozent befürworteten, dass über diese Frage in einer Volksbefragung entschieden werden sollte. An diesem Verhältnis hat sich nur wenig geändert. Mal geht es ein bisschen rauf mit der Zustimmung pro Unabhängigkeit, mal ein bisschen runter. Dass die Katalanen aber per Referendum gefragt werden wollen, dafür gibt es nach wie vor eine satte Mehrheit.
Der Knackpunkt: 9. Juli 2010
Im Regionalparlament in Barcelona spiegelte sich der nationale Impetus damals noch nicht wider. Separatistische Parteien kamen gerade mal auf 14 der insgesamt 135 Sitze. Heute haben sie mit 72 Sitzen die absolute Mehrheit inne.
Was war der Knackpunkt, der diesen Stimmungsumschwung auslöste? Auch hier lässt sich ein Datum festmachen: Es ist der 9. Juli 2010. An jenem Tag veröffentlichte das Verfassungsgericht in Madrid nach vierjähriger Beratung ein 881 Seiten umfassendes Urteil über das neue Autonomiestatut für Katalonien. Zuvor hatten die Katalanen per Referendum ihrer neuen Landesverfassung mit großer Mehrheit zugestimmt.
14 Artikel des Statuts hielten die Richter für ungültig, 27 Passa-
gen wurden umformuliert. Riesenjubel bei der damals oppositionellen Volkspartei (PP) unter Mariano Rajoy, die 2006 Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte. Die Regierung von Ministerpräsident José Luis Zapatero, die das Verhältnis Zentralregierung-Katalonien auf eine neue, zeitgemäße Basis stellen wollte, war mit ihrer Autonomiepolitik am konservativen Widerstand gescheitert. Die PP sah sich als kompromisslose Hüterin der Einheit der Nation Spanien und der Verfassung von 1978.
Der Frust sitzt jetzt tief
„Das Urteil des Verfassungsgerichts hat gezeigt, dass Spanien uns als Katalanen nicht haben will“, sagte damals Carme Forcadell über ihren Frust. Die heutige katalanische Parlamentspräsidentin, die als Vorsitzende des Katalanischen Nationalkongresses (ANC) die Kundgebung am 11. September 2012 organisiert hatte, war fortan eine der vehementesten Verfechterinnen einer Trennung von Spanien.
Auch der aktuelle katalanische Regierungschef Carles Puigdemont sieht den 9. Juli 2010 als Ausgangspunkt für die aktuelle Entwicklung in Katalonien: „Es war ein Einschnitt, als das Verfassungsgericht auf Betreiben der jetzt in Madrid regierenden konservativen Volkspartei vor sieben Jahren das Autonomiestatut für Katalonien für ungültig erklärt hat, obwohl dieses bereits vom Parlament und auch vom König akzeptiert worden war. Für die Katalanen bedeutete der Schritt, dass sie sich erneut von Madrid zurückgesetzt fühlten“, sagte Puigdemont dieser Tage im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.
Die CiU-Regionalregierung aber wurde damals im September 2012 von der Welle nationalen Überschwangs überrollt – und wohl ein bisschen auf dem falschen Fuß erwischt. Denn gerade erst hatte das hochverschuldete Katalonien vom Zentralstaat finanzielle Hilfe in Höhe von fünf Milliarden Euro erbettelt. Doch Ministerpräsident Artur Mas wollte auf der Welle surfen und als Trumpf gegenüber Madrid ausspielen.
Eine Woche später ließ Rajoy den Katalanen abblitzen. Den von Mas gewünschten Fiskalpakt, der die Steuerzahlung der Region an den Zentralstaat mindern würde, werde es mit der Volkspartei nicht geben. Mit der klaren Absage im Gepäck kehrte Mas nach Barcelona zurück. „Eine historische Chance wurde verpasst“, sagte er vor Anhängern. Von nun an sollten sich die Ereignisse beschleunigen und eine Eigendynamik entwickeln.
Der von Rajoy abgebügelte Mas, ansonsten ein eher kühl und pragmatisch denkender Politiker, nahm nun eine radikalere Position ein. Er setzte Neuwahlen für den 25. November 2012 an und ließ sich vom Regionalparlament Rückendeckung geben für ein Unabhängigkeitsreferendum in der kommenden Legislaturperiode. Notfalls gegen den Willen der Zentralregierung. „Der Prozess ist nicht mehr aufzuhalten“, sagte Mas.
Madrid warnte Mas: Ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens verstoße gegen die Verfassung. Und Vizeregierungschefin Soraya Sáenz de Santamaría machte deutlich: „Es gibt ausrei- chende Mittel, ein Referendum in Katalonien zu verhindern, und wir werden uns nicht scheuen, sie anzuwenden.“
Rajoy nannte die Referendumspläne einen „kolossalen Unsinn“und ein „Schmierenstück“. Bis heute hat sich an der Wortwahl nichts geändert. Saénz de Santamaría nannte Mas einen „Geisterfahrer“. Bildungsminister José Ignacio Wert äußerte, er wolle mit seiner geplanten Schulreform die katalanischen Schüler „hispanisieren“– und weckte Erinnerungen an die Franco-Zeit. Nur, um wenig später zu äußeren: „Ich bin stolz auf das, was ich gesagt habe.“
Plötzlich eine dritte Front
So goss die Regierung in Madrid Öl ins lodernde NationalismusFeuer. Dabei konnte Rajoy die Separatismus-Debatte nicht gebrauchen. Es war wie eine dritte Front, die plötzlich aufgemacht wurde. Die Wirtschaft steckte tief in der Rezession. Nicht auszuschließen war im September 2012, dass Spanien vollständig unter den EuroRettungsschirm schlüpfen musste. Hinzu kam, dass der soziale Frieden dahin war. Am 14. November 2012 sah sich die Regierung mit dem zweiten Generalstreik gegen die Sparpolitik in jenem Jahr konfrontiert. Und nun das Streben nach Eigenstaatlichkeit in Katalonien.
Der Schwung, den der Separatismus erhalten hatte, war auch ein Ausdruck der Krise. Er folgte dem Muster reicher Norden und armer Süden. Die beiden wirtschaftlich starken Regionen Katalonien und Baskenland erwirtschaften über ein Viertel des spanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Vor allem das damals mit 44 Milliarden Euro