Immer wieder aufgestanden
Musikgeschichte zwischen Trauer und Höhenflügen: Die spanische Kultband Los Secretos feiert 40-jähriges Bestehen
Sie schrieben Musikgeschichte. Eine Geschichte, die von vielen Höhe- und tragischen Tiefpunkten geprägt ist. Sie stießen die postfranquistische Kulturbewegung Movida Madrileña an und feiern in diesem Jahr ihr 40-jähriges Bestehen, das sie unter anderem in Konzertsäle von Elche, Teulada und València führt.
Los Secretos gelten als eine der Bands, die den spanischen Pop der 80er und 90er Jahre am meisten geprägt hat. Oder doch eher den Rock? New Wave oder Country? Von allem etwas, würden sie wohl selbst sagen, denn kaum etwas liegt ihnen ferner, als sich einer Musikrichtung unterzuordnen. „Wir wollten nie den Schritten des Marktes folgen“, sagt Álvaro Urquijo, einer der Gründungsbrüder und bis heute Mitglied der Secre- tos, in dem anlässlich des 40-jährigen Bestehens erstellten Dokumentarfilm „Una vida a tu lado“(Ein Leben an deiner Seite).
Heimliche Proben
Alles begann in einer kleinen Madrilener Schule, in der vier Jungs ihre Liebe zur Musik entdeckten. „In dieser Schule wurde eine Welt rund um die Musik geschaffen“, erzählt der zweite Gründungsbruder, Javier Urquijo, der bis Mitte der 80er Jahre Mitglied der Secretos war. Gemeinsam mit ihrem dritten Bruder Enrique, der später zu einer Kultfigur werden sollte, sowie ihrem Freund José Enrique Cano, genannt Canito, gründeten sie 1978 die Secretos-VorläuferBand Tos.
Die ersten Proben fanden, vor dem Vater der Urquijos-Brüder verheimlicht, in den Räumen einer Bonbonfabrik statt. 1979 nahmen die Jugendlichen ihre ersten Songs auf. Darunter auch erste Versionen eines ihrer nach wie vor größten Hits, „Déjame“(Lass mich). „Madrid war nach dem Tod Francos noch nicht ruhig, glücklich und bunt. Aber wenn wir spielten, ver- wandelte sich alles in eine Explosion der Farben“, sagt Álvaro in dem Dokumentarfilm.
„Canito war der Initiator von allem“, sagt Javier Urquijo. Canito war laut der Beschreibungen seiner Freunde verliebt in das Leben, trieb die Gruppe voran und war überzeugt von ihrer erfolgreichen Zukunft. Seine eigene endete jäh am frühen Neujahrsmorgen 1980. Als der 17-jährige Songwriter,
„Enrique Urquijo entblößte sich mit einfachen Texten, denn es waren seine Geschichten“
Sänger und Schlagzeuger nach einer gemeinsamen Silvesterparty neben seinem am Straßenrand geparkten Wagen stand und auf seine Freunde wartete, um mit ihnen zusammen woanders weiterzufeiern, riss ihn ein Auto mit sich. Drei Tage später starb Canito an den Folgen des Unfalls. Und Los Secretos blickten in ihren ersten tiefen Abgrund.
Doch sie stürzten nicht, und es war in gewisser Weise Canito selbst, der sie davon abhielt. In kürzester Zeit stellten sie für den 9. Februar 1980 ein Festival zu seinen Ehren auf die Beine. Nacha Pop sowie Alaska y los Pegamoides waren nur einige der Bands, die die Bühne betraten. Das Konzert gilt bis heute als Auftakt der Movida Madrileña. „Es spiegelte das wieder, was auf der Straße vor sich ging“, sagt Javier Urquijo in „Una vida a tu lado“. „Fast alle Gruppen, die dort auftraten, erhielten danach einen Plattenvertrag.“
Macher einer Hymne
Auch Tos machte weiter, wenn auch bald unter einem anderen Namen. Und mit neuer Besetzung. Noch vor Ende des Jahres wurde der verstorbene Schlagzeuger Canito durch Pedro Díaz ersetzt, aus Tos wurden Los Secretos (Die Geheimnisse). Ein Name, der auch auf das immerhin zwei Jahre lang vor dem Vater verheimlichte Musizieren zurückgeht.
„In nur wenigen Monaten bauten wir die Band auf, es war ein explosives Jahr“, blickt Álvaro Urquijo in einem Interview mit der Zeitung „ABC“zurück. Ganze vier Monate brauchten sie, um ihre erste Maxi-Single aufzunehmen, 1981 erschien die erste LP, beide trugen den Titel „Los Secretos“. Die Single „Ojos de perdida“landete bei den Radiosendern auf Platz eins und „Déjame“wurde zur Hymne einer ganzen Generation. Nach wie vor gilt das Album als eins der wichtigsten der neuen Musikwelle und als Referenz der spanischen Pop-Geschichte.
Doch es folgten Drogenprobleme, weniger erfolgreiche Monate – und die Secretos steuerten auf ihren nächsten Abgrund zu. Im Mai 1984 starb Pedro Díaz, wie schon sein Vorgänger, bei einem Autounfall. Er wurde 24 Jahre alt. „Als es uns wieder traf, diesmal mit Pedro, weinten wir nicht mehr“, sagt Álvaro abgeklärt im „ABC“-Interview.
Trotzdem brauchte die Band Zeit, um wieder aufzustehen. Neue Mitglieder stießen dazu, Javier verließ die Band, ab 1985 kamen Country-Einflüsse in die SecretosMusik, Sänger Enrique Urquijo prägte die Band mit textlichen und melodischen Meisterleistungen. Der „Storyteller“brachte Emotionen direkt und unverfälscht auf die Bühne. „Mit seinen einfachen Texten entblößte er sich, denn es waren seine eigenen Geschichten“, heißt es in dem Dokumentarfilm.
Bezeichnend war Enriques Freundschaft zu Liedermacher Joaquín Sabina, bei dem er einund ausging. „Er kam früh morgens zu mir und wir spielten gemeinsam Gitarre. Ich zeigte ihm, wie ich es machte, aber letztlich machte jeder das, was er wollte“, sagt Sabina in „Una vida a tu la- do“. Eine Freundschaft, aus der eine einzigartige Gemeinschaftsproduktion hervorging: Beide komponierten aus gemeinsam begonnenen und individuell beendeten Textideen einen eigenen Song. Bei Los Secretos war es „Ojos de Gata“, bei Joaquín Sabina „Y nos dieron las diez“. Beide Stücke sollte man gehört haben.
„Uns gefiel das gleiche Territorium, das der Melancholie“, sagt Joaquín Sabina, und „El Mundo“schrieb in einer Reportage über Enrique: „Er sang regelrechte Hymnen an die Traurigkeit, zerrissene Gesänge auf die Einsamkeit, das Entlieben, die Kälte, die Nacht und den Alkohol“.
Ab Anfang der 90er Jahre fuhren Los Secretos wieder auf der Erfolgsschiene. Und als es gerade so richtig gut lief, blieb die Zeit für einige Momente stehen. Bei den Secretos selbst und in den Häusern ihrer Fans: Im November 1999 wurde der 39-jährige Enrique tot in einem Hauseingang im Madrilener Viertel Malasaña aufgefunden. Er starb an einer Überdosis. So die offizielle Ursache. „Die Menschen von außen verwechselten die Substanz, die er nahm, mit dem Leiden, das er mit dieser Substanz überdecken wollte“, sagt sein Bruder Álvaro in dem Dokumentarfilm.
Enrique hatte an Depressionen gelitten, fiel von Höhenflügen in tiefe Abgründe. Seit einem Jahr war er jedoch clean, wollte um das Sorgerecht für seine vierjährige Tochter María kämpfen und eine neue CD aufnehmen. „Es geht ihm so gut, dass ich einen Rückfall befürchte“, hatte eine Ärztin die Familie wenige Wochen vor seinem Tod gewarnt. „Wegen der Art und Weise, wie er aufgefunden wurde, denken die Leute, dass er in diesem Moment drogenabhängig war“, verteidigt ihn sein Bruder Álvaro eisern in der Zeitung „ABC“. Doch so sei es nicht gewesen, versichert er. „Ich werde es immer einen Unfall nennen“, wird er bei EFE zitiert.
Ob Unfall oder Überdosis: Die Zeit blieb auch nach Enriques Tod nur kurz stehen. Álvaro übernahm Gesang und Komposition, auch wenn es ihm anfangs schwindelig wurde bei dem Gedanken, dass sein Bruder Stücke geschrieben hatte, über die man noch in Jahrzehnten sprechen würde. Los Secretos nahmen als Hommage an den Verstorbenen die CD „A tu lado“auf und organisierten eine kleine Tour. Mit der Absicht, das durch den Drogentod verschmutzte Bild des Musikers reinzuwaschen. Auch der kleinen María zu Liebe.
Die Konzerte hatten riesigen Erfolg, das Publikum wollte mehr. Alles andere zählte nicht. Die Secretos machten weiter. Der anonyme Zuschauer, so Álvaro, sei der „wahre Verbündete“. Nur mit Hilfe dieses Verbündeten schafften Los Secretos die 40 Jahre. „Es gibt mehr Lieder, die noch geschrieben werden können, als Sterne am Himmel“, sagt Álvaro Urquijo, an dessen Seite bis heute Ramón Arroyo (Gitarre), Jesús Redondo (Keyboard), Juanjo Ramos (Bass) und Santi Fernández (Schlagzeug) spielen. Die Musikgeschichte ist noch nicht beendet.