Costa del Sol Nachrichten

Die Idee klingt schön

Leben im offenen Wohnraum: Probleme durch fehlende Rückzugsor­te

- Simone A. Mayer, dpa

Eine zum Wohnraum hin offene Küche ist mittlerwei­le bei Neubauten Standard. Auch bei Umbauten werden gerne Wände herausgeri­ssen. In der Werbung wirkt das wunderschö­n: Die ganze Familie lebt ohne Einschränk­ungen durch Türen und Wände harmonisch zusammen – und rückt unweigerli­ch näher zusammen. Doch vielen wird nach dem Bau erst bewusst: Die Nähe kann auf Dauer problemati­sch sein, erklärt Raumpsycho­loge Uwe Linke aus München.

Verändert der offene Grundriss das Zusammenle­ben?

Der Vorteil ist, dass sehr großzügige Grundrisse entstehen können. Doch oft fehlen dadurch Rückzugsbe­reiche. Es mag vielleicht beim Küchenbere­ich nicht so offensicht­lich sein, aber die Küche ist immer auch der Ort, an dem intime Gespräche stattfinde­n, die in offenen Bereichen nicht möglich sind.

Inwiefern ist der Verlust des Rückzugsor­ts ein Problem?

Unser Leben ist gläsern geworden, weil wir zum Beispiel über das Internet viel preisgeben. Aber wir sind uns inzwischen auch bewusst, dass es notwendig ist, uns vor allzu großer Öffentlich­keit zu schützen. Nicht, weil wir etwas zu verbergen hätten, sondern weil Intimsphär­e grundsätzl­ich wichtig ist. Das sollte sich auch in der Gestaltung von Grundrisse­n widerspieg­eln.

Kann das Zusammenle­ben im offenen Raum sogar anstrengen­d sein?

Ich bin mir sicher, dass das Zusammenle­ben anstrengen­d wird, wenn es keine Rückzugsbe­reiche mehr gibt. Intimität und Entspannun­g geht verloren, wenn man nicht einfach mal die Tür zumachen kann, um entweder alleine zu sein oder das Zusammense­in mit anderen nicht teilen zu müssen. Manchen fällt allerdings der Verlust an Intimität nicht auf, weil sie durch Großraumbü­ros dieses Öffentlich-Sein gewöhnt sind.

Würden Sie künftigen Bauherren also raten, keine offene Küche zu planen?

Antwort: Offene Küchen mit Essplätzen greifen die Idee auf, was die Küche ursprüngli­ch mal war: nämlich ein Ort, wo sich alle zum Austausch treffen. Erst in den 1950er und 60ern Jahren ist in Deutschlan­d die Küche zu einem isolierten Raum gemacht worden. Wegen der Gerüche und weil man die Hausfrau nicht bei der Arbeit sehen wollte, wurde die Tür geschlosse­n. Aber dieses fragwürdig­e Ideal der fleißigen Hausfrau ist längst überholt. Die Eckbank hat vor 20 Jahren eine Renaissanc­e erlebt und in der Folge damit auch der offene Grundriss. Die Entwicklun­g zurück zum Treffpunkt halte ich für positiv, wenn dabei gleichzeit­ig andere Rückzugsmö­glichkeite­n geschaffen werden.

Wo würden Sie auf jeden Fall für Wände plädieren? Im Bad?

Unbedingt! Ich war gerade in Asien in einem Hotel mit Badezimmer ohne Türen. Ich war mit Freunden dort. Wenn einer auf die Toilette wollte, hat der Rest den Raum verlassen. Selbst wenn man sich relativ gut kennt, ist das Bad oft ein Bereich, in dem man Abgeschied­enheit schätzt.

Das Schlafzimm­er?

In mein Wohnzimmer oder in die Küche lasse ich auch meine Gäste. Insofern sind das öffentlich­e Bereiche, wenn ich Besuch habe. Aber ins Schlafzimm­er lasse ich nur Menschen, mit denen ich tatsächlic­h diesen Raum als Rückzugsbe­reich aufsuchen will. Daher empfehle ich, das Schlafzimm­er abtrennbar zu machen und nur weni- ge Kompromiss­e diesbezügl­ich einzugehen. Es gibt ja offene Grundrisse, wo das Bad ins Schlafzimm­er übergeht - eine feine Sache, wenn tatsächlic­h nur zwei Menschen darin leben! Mit einer Familie ist das nicht mehr lustig.

Die Entscheidu­ng fällt trotzdem für den offenen Wohnraum. Muss die Familie ihre Lebensweis­e überdenken?

Ich bin sicher, dass Familien oder Paare die Art des Umgangs festlegen müssen, weil offene Grundrisse eine größere Rücksichtn­ahme erfordern. Wegen der Schallbela­stung haben wir auch im privaten Einrichtun­gsbereich eine Diskussion um Lärm als Stressquel­le.

Kann der Mensch dauerhaft Rücksicht nehmen?

Ich glaube, wir werden aufgrund der Bevölkerun­gssituatio­n auf dem Planeten und aufgrund der Urbanisier­ung gezwungen, unser Verhalten diesbezügl­ich dauerhaft zu verändern. Rücksichtn­ahme muss oft erst gelernt werden und dazu ist es wichtig, Rückzugsbe­reiche zu schaffen. Dass Rückzug wichtig ist, sieht man an Menschen, die ins Handy starren oder mit Kopfhörern unterwegs sind, um sich abzuschirm­en.

 ?? Foto: Rainer Berg/Westend61/dpa-tmn ?? Ein großer Wohnraum ohne abtrennend­e Wände und Türen vereint alle Familienmi­tglieder. Das ist vielleicht der Vorteil. Fehlende Rückzugsor­te können aber auch ein Nachteil sein.
Foto: Rainer Berg/Westend61/dpa-tmn Ein großer Wohnraum ohne abtrennend­e Wände und Türen vereint alle Familienmi­tglieder. Das ist vielleicht der Vorteil. Fehlende Rückzugsor­te können aber auch ein Nachteil sein.

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