Der Tag, an dem sich das Blatt wendete
Fast jeden Morgen fahre ich mit Ernesto im Bus. Angeregt unterhalten wir uns meist über Politik, Familie und manchmal auch über deutsche Autos. Ernesto liebt deutsche Autos. Vor einigen Jahren ist er eigens nach Deutschland gereist, um sich einen Mercedes zu kaufen und von Berlin nach Málaga zu fahren. Seine Tochter spricht Deutsch und hat ein paar Monate in Berlin gelebt. Ich dachte, dass ich als Deutsche bei Ernesto einen Stein im Brett hätte. Ich fühlte mich akzeptiert trotz meines deutschen Akzents. Am Tag nachdem Carles Puigdemont in Neumünster unter Auflagen freigelassen worden war, wendete sich dagegen das Blatt. Ich war schlaftrunken und hatte eigentlich noch gar keine Lust auf eine tiefsinnige politische Diskussion. Ernesto, selbst Rechtsanwalt, wetterte los: „Was sich denn das deutsche Oberlandesgericht dabei gedacht hat“, rief er durch den Bus und die Adern auf seiner Stirn schwollen an. „Da kann man ja gleich die europäische Gesetzgebung über Bord werfen“, zeterte er lauthals. Einige Fahrgäste blickten ihn schon ganz entgeistert an. Und überhaupt habe er einen deutschen Rechtsanwaltskollegen, dem man auch nicht so recht über den Weg trauen könne. Überheblich seien die meisten Deutschen, jawohl, schnaubte Ernesto. Spanien solle genauso wie Großbritannien aus der EU austreten. „A la mierda!“, schrie er und ich wurde immer kleiner auf meinem Sitz. „Aber Ernesto, nun beruhige Mit hochrotem Kopf schimpfte er weiter: „Einmal, da habe ich eine Festplatte zur Reparatur nach Deutschland geschickt, jawohl, 200 Euro haben sie mir abgeknöpft und – wie kam sie zurück – na klar, kaputt, wie auch sonst. Eine Anzeige habe ich mir erspart, da hätte ich ja nur noch draufgezahlt.“Sein deutscher Rechtsanwaltsfreund lästere ständig über Andalusien, sagte er wutentbrannt. „Dann soll er doch zurück nach Deutschland gehen!“Zum Glück gelangte der Bus an meine Haltestelle. Beim Ausstiegen rief ich ihm zu: „Scher nicht alle Deutschen über einen Kamm und beruhige Dich, sonst bekommst Du noch einen Herzinfarkt.“Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn seit besagtem Morgen habe ich Ernesto nicht mehr gesehen. Ob er mich nun bewusst meidet?