80 Jahre später
Vergessen und verdrängt: Die Bombardierung Alicantes am 25. Mai 1938
Am vergangenen Freitag hat sich in Alicante der wohl schlimmste Tag der jüngeren Stadtgeschichte zum 80. Mal gejährt. In der Provinzhauptstadt ereignete sich am 25. Mai 1938 der verheerendste Luftangriff des spanischen Bürger- kriegs. An jenem Vormittag tauchten neun italienische Militärflugzeuge am Himmel auf und warfen ohne Vorwarnung 90 Bomben ab. Die mit Franco kooperierenden italienischen Faschisten hinterließen eine Spur der Verwüstung in der Stadt – und über 300 Todesopfer. Acht Jahrzehnte später werfen die Hintergründe der Bombardierung noch immer Fragen auf. Und für viele Alicantiner ist die Tragödie noch immer ein Tabuthema.
Auf dem Platz hinter Alicantes Mercado Central herrscht geschäftiges Treiben. Hausfrauen ziehen eilig ihre vollen Einkaufstrolleys hinter sich her, nachdem sie sie in der Markthalle mit frischem Gemüse, Obst, Fleisch oder Fisch beladen haben. Bekannte werden im Vorbeigehen gegrüßt, wer etwas mehr Zeit hat, lässt sich für eine schnelle Tasse Kaffee in der Bar gegenüber nieder. Die Metallplatte, die unweit des Markthalleneingangs in den Boden eingelassen ist, und über die Füße und Trolleyräder hinwegeilen, beachtet kaum jemand.
Kein Wunder, sagt Miguel Ángel Pérez Oca. Die Plakette, die an den wohl verheerendsten Bombenangriff des Spanischen Bürgerkriegs erinnert, sei ja kaum zu sehen. Der Schriftsteller und Hobbyhistoriker hat in sei- nem Buch „25 de Mayo. La tragedia olvidada“(25. Mai. Die vergessene Tragödie) den schlimmsten Tag in der jüngeren Geschichte der Provinzhauptstadt dokumentiert.
Am 25. Mai 1938, vor genau 80 Jahren, warfen um 11.10 Uhr neun italienische Flugzeuge des Typs Sparviero 79 genau 90 Bomben über der Stadt ab. Die meisten Todesopfer waren auf dem Obst- und Gemüsemarkt neben Alicantes heutiger Markthalle zu beklagen. „An jenem Tag gab es frische Artischocken aus der Vega Baja und Sardinen. Der Markt war voll mit hungrigen Menschen“, erklärt Pérez.
Letzte republikanische Bastion
Vornehmlich Kinder, Hausfrauen und ältere Señores drängen sich an jenem sonnigen Maitag 1938 um die Stände, als die italienischen Flieger ohne Vorwarnung über der Stadt auftauchen und mit ihren Bomben eine Schneise der Verwüstung vom Hafen bis hinter den Mercado Central ziehen. Zwei Projektile schlagen unweit der Markthalle ein. Mindestens 300 Menschen sterben. Die Sirenen, die die Einwohner Alicantes, der letzten republikanischen Bastion, vor Francos faschistischen Verbündeten warnen sollen, tun es an diesem Tag nicht. Warum, darüber wird in Alicante noch immer spekuliert.
Miguel Ángel Pérez glaubt, bei den Recherchen für sein Buch
eine mögliche Erklärung für den tragischen Ausfall des Warnsystems gefunden zu haben: „Ich sprach vor einigen Jahren mit einem mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen, der damals 13 oder 14 Jahre alt war. Er erzählte mir, er habe, kurz bevor die italienischen Bomber am Himmel auftauchten, eine Passagiermaschine der französischen Fluggesellschaft Air France über Alicante fliegen sehen.“
Offenbar ordneten die Beobachter, die die Fluggeräusche am Himmel registrierten, die kurz darauf zu hörenden Motorengeräusche der italienischen Kriegsmaschinen dem französischen Zivilflugzeug zu. Eine mögliche Erklärung, warum die Sirenen erst dann heulten, als bereits die ersten Bomben fielen.
Am 29. Mai 1938 – vier Tage nach der furchtbaren Attacke auf Alicante – schreibt die sozialistische spanische Tageszeitung „Avance“, die die Zahl der Opfer auf rund 250 schätzt: „Das Bombardement auf Alicante ist das schrecklichste und abstoßendste, was wir bislang im Krieg erlebt haben.“Ähnlich wie im baskischen Guernica, wo am 26. Juni 1937 bei einer Attacke der deutschen Legion Condor mindestens 120 Menschen starben, war Alicante an jenem 25. Mai 1938 wohl auch Versuchsschauplatz für die italienischen Bomber. „Erst kürzlich habe ich erfahren, dass vor kurzem einer der italienischen Piloten im Alter von 81 Jahren gestorben ist. Er war bis zuletzt als General tätig. Unfassbar, dass die- se Leute ungestraft davongekommen sind“, sagt Pérez.
Alicantes Trauma
Das Trauma hat Alicante bis heute nicht verarbeitet. Hartnäckig hält sich die Legende, dass die italienischen Flugzeuge – statt wie sonst von den Balearen, also vom Meer aus – tückischerweise aus dem Inland kamen und die Sirenen deshalb nicht rechtzeitig warnten.
Diese Theorie hat nun, 80 Jahre später, auch der animierte Kurzfilm „El olvido“(Das Vergessen) der alicantinischen Produktionsfirma Horizonte Seis Quince wieder aufgegriffen. Pé- rez, der den Streifen bereits bei der Produktion sehen durfte, hat bei seinen Nachforschungen allerdings keine Hinweise darauf gefunden, dass die Bomber eine andere Route als üblich nahmen. „Das ist aber der einzige Aspekt, der mir an dem Film nicht so gut gefällt“, so der Historiker. Öffentlich präsentiert werden soll „El Olvido“anlässlich des 80. Jahrestags des Bombardements.
Im Dokumentarfilm „Dins dels teus ulls“(In deinen Augen), den Silvia Pondoza in Zusammenarbeit in der Universität Alicante gedreht hat, kommen zum Großteil mittlerweile verstorbene Augenzeugen zu Wort. Juan Ortiz bei- spielsweise, der als neunjähriger Junge bei der Attacke schwer verletzt wurde, erzählt von grausamen Erinnerungen an den heutigen Platz hinter der Markthalle: „Das Blut floss in Strömen über den Platz, so als habe jemand mit Gießkannen die Blumen gewässert.“Andere Zeitzeugen erzählen von einem furchtbaren Anblick mit zahlreichen geköpften Opfern. „Was in den Opferzahlen nicht berücksichtigt wird, sind die vielen traumatisierten Kinder, Frauen und Männer“, sagt Pérez.
An ein Versehen glaubt keiner
In einem Interview, das er 1939 der spanischen Tageszeitung „ABC“gab, sagte General Francisco Franco: „Eine Bombardierung der zivilen Bevölkerung – das betone ich entschieden – gibt es nicht. Es werden lediglich militärische Ziele bombardiert. Es ist leider wahr, dass es auch Tote unter der nicht kämpfenden Bevölkerung gibt. Diese sind sehr zu bedauern. Aber die rote Regierung nimmt sie in Kauf, indem sie militärische Ziele in von ziviler Bevölkerung bewohnten Gebieten platziert. Außerdem sind diese Opfer von der roten Regierung erwünscht, sie braucht sie für ihre Propaganda.“
Dass der Angriff auf den Mercado Central ein Versehen war, glaubt in Alicante niemand. „Es sind ungefähr 1,5 Kilometer vom Hafen, der tatsächlich ein militärisches Ziel gewesen wäre, bis zur Markthalle. Ich glaube nicht daran, dass man sich so irren kann“, sagt Pérez. Augenzeugen berichten zudem, dass die Bomber so tief geflogen seien, dass die italienischen Insignien zu lesen waren. Das widerspricht den offiziellen Angaben, nach denen die Flugzeuge Alicante aus etwa 4.000 Metern Höhe attackierten. „Ich halte eine Flughöhe von 400 Metern für realistisch. Irgendjemand hat wahrscheinlich eine Null angefügt“, mutmaßt Pérez.
Die britische Untersuchungskommission, die mit der Aufarbeitung der international Aufmerksamkeit erregenden Tragödie beauftragt wird, kommt im September 1938 zu dem Schluss, dass es sich um eine „absichtliche Attacke auf einen zivilen Bereich“gehandelt habe. Der Angriff auf den Markt gehörte zur Einschüchterungstaktik des Franco-Regimes.
Bis heute ein Tabuthema
Pérez’ Mutter, die bald 100 Jahre alt wird, ist eine der letzten damals bereits erwachsenen Augenzeugen, die heute noch leben. „Als ich ein Junge war, erzählte sie mir, wie sie gerade in der Tram saß, als das Bombardement begann. Meine Mutter flüsterte, wenn sie diese Dinge sagte“, erzählt Pérez. „Die Alicantinos lebten in Angst. Das und die nach dem Bürgerkrieg viel zu lange andauernde Diktatur sind Gründe dafür, warum der Angriff vom 25. Mai für viele bis heute ein Tabu-
Zwei Bomben schlagen unweit der Markthalle ein, mindestens 300 Menschen sterben