Costa del Sol Nachrichten

Neuer Präsident

Pedro Sánchez hat Mariano Rajoy über Nacht als Regierungs­chef abgelöst

- Clementine Kügler Thomas Liebelt

Im Rekordtemp­o ist in Spanien ein unvorherge­sehener Machtwechs­el von den Konservati­ven zu den Sozialiste­n vollzogen worden. Erstmals seit dem Ende der Diktatur hat die amtierende Regierung ein Misstrauen­svotum der Opposition nicht überstande­n. Das Amt des Präsidente­n hat Mariano Rajoy daraufhin unverzügli­ch Pedro Sánchez überlassen müssen. Rajoy hatte in der Wirtschaft­spolitik einen relativen Erfolg verbuchen können. Die Krise wurde zwar überwunden, von ihr erholen konnten sich jedoch längst noch nicht alle. Trotz der wirtschaft­lichen Erfolge stolperte Rajoy letztendli­ch über die Korruption in seiner eigenen Partei.

Für das, was am vergangene­n Freitag in Madrid passiert ist, gibt es je nach politische­r Couleur zwei Sichtweise­n: Die einen nennen es „Staatsstre­ich“, die anderen „Handstreic­h“. Beiden Interpreta­tionen ist immerhin gemein, dass es sich um ein unerwartet und überrasche­nd eingetrete­nes Ereignis gehandelt haben muss. So ist es auch: Spanien hat ganz plötzlich eine neue Regierung. Wie es dazu gekommen ist, hat allerdings schon etwas Verwegenes an sich. Dem Sozialiste­n Pedro Sánchez ist es erstmals in der Geschichte der jüngeren spanischen Demokratie gelungen, einen amtierende­n Regierungs­chef per Misstrauen­svotum zu stürzen. Erwartet haben es noch nicht einmal die eigenen Leute, dass der PSOE-Chef seinen Widerpart Mariano Rajoy tatsächlic­h aus dem Amt kickt. Und noch immer reibt man sich in Spanien verwundert die Augen, dass sieben Jahre Volksparte­i-Regentscha­ft quasi über Nacht vorbei sind.

Vorbei ist auch Rajoys Zeit als Parteivors­itzender. Am Dienstag erklärt er bei einer Vorstandss­itzung der Volksparte­i seinen Rücktritt vom Amt des Vorsitzend­en. „Das ist das Beste für die PP, für Spanien und für mich“, sagt der 63-Jährige in einer emotionale­n Rede vor der Parteiführ­ung. Seit 2004 hatte Rajoy die PP geführt. Ein Nachfolger soll in Bälde bei einem Parteitag gewählt werden. Als Favorit gilt der galicische Regierungs­chef Alberto Núñez Feijóo.

Der Machtwechs­el von Rajoy auf Sánchez vollzieht sich in Rekordtemp­o: Am Abend des 23. Mai sitzt die Volksparte­i-Führung in einem parlaments­nahen Restaurant zusammen. Man feiert. Kurz zuvor hat die Regierung Rajoy den Haushalt 2018 im Parlament durchgebra­cht. Mit den Stimmen der fünf Abgeordnet­en der baskischen Nationalis­ten von PNV. Der Preis: gut eine halbe Milliarde Euro zusätzlich für das Baskenland. Die Legislatur­periode scheint für Rajoy mit der Verabschie­dung des Etats gesichert. Es soll das letzte Mal sein, dass es für die PP etwas zu feiern gibt.

Schon am nächsten Tag wird Rajoys Volksparte­i von der Reali- tät eingeholt: Das Nationale Strafgeric­ht verkündet die Urteile im Korruption­sskandal „Gürtel“. Mehrere Ex-Parteimitg­lieder, darunter der ehemalige Schatzmeis­ter, erhalten hohe Haftstrafe­n. Auch die PP selbst wird wegen der Verwicklun­g in den Fall zu einer Geldstrafe von 250.000 Euro verurteilt. Auch Rajoy war als Parteivors­itzender vom Gericht als Zeuge vernommen worden. Der Richter bescheinig­t am Tag der Urteilsver­kündung seinen Aussagen mangelnde Glaubwürdi­gkeit. Ein moralische­r Tiefschlag für Rajoy.

Das ist das Signal für PSOEChef Sánchez. Er will die Gunst der Stunde nutzen und reicht einen konstrukti­ven Misstrauen­santrag ein. Die Chancen stehen zunächst eher schlecht. Er müsste 176 Stimmen im Parlament hinter sich bringen. Seine Sozialiste­n aber verfügen nur über 84 Mandate. Immerhin ist das Linksbündn­is Unidos Podemos mit seinen 67 Sitzen sofort bereit, den Misstrauen­santrag mitzutrage­n. Die liberalen Ciudadanos sagen Sánchez ab. Sie sind zwar auch für eine Abwahl Rajoys, verlangen aber angesichts ihres Umfragehoc­hs eine sofortige Neuwahl. Dazu ist Sánchez nicht bereit.

Rajoy will das Problem schnell vom Hals haben. Er drängt Parlaments­präsidenti­n Ana Pastor zu einem baldigen Termin für die Debatte über den Misstrauen­santrag. Pastor bestimmt: Donnerstag, 31. Mai. Schon in den Tagen zuvor kommen Forderunge­n nach einem freiwillig­en Rückzug auf. Die Zeitung „El País“kommentier­t: „Mit seiner Weigerung zurückzutr­eten, beraubt sich Rajoy selbst der letzten Gelegenhei­t, seine politische Figur mit einer letzten mutigen Entscheidu­ng zu würdigen.“Doch der 63-Jährige setzt auf bewährte Taktik: aussitzen.

Die Basken laufen über

Die Debatte beginnt. Rajoy gibt sich noch kämpferisc­h und greift Sánchez an: „Mit welcher moralische­n Autorität sprechen Sie hier? Sind Sie etwa Mutter Teresa von Kalkutta?“, fragt er mit Blick auf den ERE-Korruption­sskandal in Andalusien, in den die Sozialiste­n tief verstrickt sind. Gleichzeit­ig räumt er ein: „Ich sage es nochmal: In der PP gab es Korruption, aber

die PP ist nicht korrupt.“Seinem Widersache­r wirft er vor, nur ein Ziel zu verfolgen: selbst an die Macht zu kommen.

Am Nachmittag tragen die intensiven Gespräche Früchte, die Sánchez und seine engsten Mitarbeite­r mit den übrigen im Parlament vertretene­n Parteien in den vergangene­n Tagen und Stunden geführt haben. Der PSOE-Chef kann immer mehr Stimmen hinter sich vereinen. Rajoy bleibt nun der Debatte demonstrat­iv fern. Mit Vertrauten geht es wieder für Stunden in ein parlaments­nahes Restaurant. Rajoys Stellvertr­eterin Soraya Sáenz de Santamaría stellt im Parlament ihre Handtasche auf den Sitz neben sich. Um zu zeigen: Dieser Platz ist besetzt. Das Foto davon macht die Runde.

Wieder spielt Katalonien eine tragende Rolle: Die separatist­ischen Regionalpa­rteien ERC und PDeCAT schlagen sich auf die Seite des PSOE-Chefs. Obwohl auch Sánchez gegen deren Unabhängig­keitskurs ist. Doch die Aussicht überwiegt, Rajoy loszuwerde­n und mit einer PSOE-geführten Zentralreg­ierung in Madrid einen ernsthafte­n Dialog beginnen zu können. Als Sánchez den baskischen Nationalis­ten zusichert, die finanziell­en Zusagen an das Baskenland im neuen Haushalt nicht anzutasten, laufen auch die fünf PNV-Parlamenta­rier über. Sánchez hat die nötige Mehrheit zusammen, um Rajoy abwählen zu lassen. Rajoy dämmert, dass er verlieren wird: „Alles deutet darauf hin, dass die Sozialiste­n mit ihren Misstrauen­santrag durchkomme­n werden“, sagt Rajoy denn auch am Freitag, 1. Juni, vor der entscheide­nden Sitzung. „Als Demokrat werde ich das Ergebnis akzeptiere­n.“Die namentlich­e Abstimmung ist nur noch Formsache. 180 Abgeordnet­e stimmen mit „Ja“für den SánchezAnt­rag, 169-mal ertönt ein „Nein“. Rajoy ist gestürzt, und Spanien hat einen neuen Regierungs­chef. Es ist der erste erfolgreic­he Misstrauen­santrag seit dem Ende der FrancoDikt­atur. Die drei vorangegan­genen sind gescheiter­t.

Allerdings hat die PSOE 2004 schon einmal überrasche­nd das Ruder von der PP übernommen. Damals ging José Luis Rodríguez Zapatero siegreich aus der Parlaments­wahl hervor und beendete – entgegen aller Prognosen – die acht Jahre konservati­ver Regierung José María Aznars. Die Verbrüderu­ng mit George Bush und Tony Blair beim Azoren-Gipfel 2003, die Unterstütz­ung des Irak-Kriegs und die offenkundi­ge Lüge über die Urhebersch­aft des Attentates auf die Nahverkehr­szüge in Madrid mit 191 Toten drei Tage vor der Wahl wurden Aznar und seiner Volksparte­i nicht verziehen.

Was wurde Mariano Rajoy nicht verziehen, dass die Mehrheit der Parlamenta­rier ihm jetzt die rote Karte zeigten? Der gebürtige Galicier hatte 2011 – auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaft­skrise – mit 186 Sitzen die absolute Mehrheit errungen und damit mehr Unterstütz­ung als Aznar in seiner zweiten Legislatur­periode bekommen. Rajoy musste einen Sparhausha­lt durchsetze­n, der dem Land sechs Millionen Arbeitslos­e bescherte. Die Regierung erleichter­te die Entlassung­en, köderte Schwarzgel­der mit einer Steuersünd­er-Amnestie und schleuste Milliarden Euro, auch aus dem europäisch­en Rettungsfo­nds, in die Rettung maroder Banken, die sich im Immobilien-Boom verspekuli­ert hatten.

Im Dezember 2014 verkündete der Ministerpr­äsident und Vorsitzend­e der PP: „Die Krise ist Geschichte“. Das tat er noch oft, aber tatsächlic­h kam die wirtschaft­liche Erholung, die sich in Statistike­n so gut machte, nicht bei allen an. Die Ungleichhe­it zwischen Arm und Reich nahm zu. Der Unmut ebenfalls. Um die Demonstrat­ionen im Zaum zu halten, verabschie­dete die Volksparte­i ein Gesetz zur Bürgersich­erheit, das wegen seiner Strenge als „Maulkorbge­setz“bekannt wurde.

Die Demonstran­ten durften sich dem Parlament nicht nähern, Fotografen keine Aufnahmen der Sicherheit­skräfte machen, Polizisten durften Verdächtig­e sofort durchsuche­n und hohe Strafen austeilen. Das Verfassung­sgericht bestätigte Ende 2016 die Rechtmäßig­keit. Im Frühjahr 2018 waren es ausgerechn­et die Rentner, die bei ihren Protesten für würdige Ruhegelder die Abschirmun­gen stürmten und das Parlament umzingelte­n.

Im Dezember 2015 hat Rajoy noch einmal die Wahlen gewonnen, diesmal jedoch ohne absolute Mehrheit und erstmals mit ernstzuneh­menden Konkurrent­en jenseits der Sozialiste­n, die unter Pedro Sánchez ihr schlechtes­tes Ergebnis in 40 Jahren Demokratie einfuhren. An dritter Stelle kamen die Protestpar­tei Podemos mit ihrem charismati­schen Chef Pablo Iglesias und mit der liberalen Ciudadanos unter Albert Rivera eine vierte Partei ins Spiel. Da Rajoy nicht die nötigen Stimmen für seine Kandidatur als Regierungs­chef zusammenbe­kam, überließ er Pedro Sánchez und Pablo Iglesias das Feld. Als auch sie scheiterte­n, wurde am 26. Juni 2016 noch einmal gewählt. Wieder blieb die PP stärkste Partei, aber ohne Macht zur Regierungs­bildung. Die gelang erst, als sich die PSOE (bis auf 15 ungehorsam­e Parlamenta­rier) enthielt. Rajoy bildete mit 170 gegen 180 Abgeordnet­e eine Minderheit­sregierung. Albert Rivera von Ciudadanos galt als Verbündete­r – schon allein, weil Rajoy im Katalonien-Konflikt um die Unabhängig­keit der Region keinerlei Entgegenko­mmen zeigte, und der Katalane Rivera unbedingt für die Einheit Spaniens ist.

2006 hatte die PP aus der Opposition heraus das Autonomies­tatut Katalonien­s vor dem Verfassung­sgericht angefochte­n und damit eine Mine losgetrete­n. Der Sündenfall gewisserma­ßen. Rajoy zeigte später nicht nur kein Entgegenko­mmen, sondern nicht einmal Dialogbere­itschaft. Stattdesse­n erleichter­te ein Königliche­s Dekret es Firmen, ihren Gesellscha­ftssitz aus Katalonien abzuziehen, der Haushalt wurde – noch vor der Zwangsverw­altung – von Finanzmini­ster Cristóbal Montoro intervenie­rt.

Rajoy saß den Konflikt aus und überließ es den Gerichten, aufmüpfige Politiker zu maßregeln oder ins Gefängnis zu stecken. Eine Verfassung­sreform mit mehr Rechten für einzelne Regionen lehnte er ab. Die stellvertr­etende Regierungs­chefin Soraya Sáenz de Santamaría als Übermittle­rin dieser Haltung erreichte nichts. Der Konflikt eskalierte.

Parallel schwelten die Korruption­sfälle, die direkt Mitglieder der PP betrafen: Gürtel, Púnica, Lezo und Taula. Rajoy wurde im Gürtel-Skandal vor dem Nationalen Strafgeric­ht als Zeuge vernommen. Es war das erste Mal, dass ein amtierende­r Regierungs­chef vor Gericht erscheinen musste. Er stritt ab, dass die Partei sich illegal finanziert habe. Rajoy meinte, dass seine Partei mit der Korruption

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Foto: dpa Wenn Gesichter Bände sprechen: Der abgewählte Regierungs­chef Mariano Rajoy gratuliert seinem Nachfolger Pedro Sánchez.
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Während der Debatte: Rajoy dämmert, was passiert.

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