Neuer Präsident
Pedro Sánchez hat Mariano Rajoy über Nacht als Regierungschef abgelöst
Im Rekordtempo ist in Spanien ein unvorhergesehener Machtwechsel von den Konservativen zu den Sozialisten vollzogen worden. Erstmals seit dem Ende der Diktatur hat die amtierende Regierung ein Misstrauensvotum der Opposition nicht überstanden. Das Amt des Präsidenten hat Mariano Rajoy daraufhin unverzüglich Pedro Sánchez überlassen müssen. Rajoy hatte in der Wirtschaftspolitik einen relativen Erfolg verbuchen können. Die Krise wurde zwar überwunden, von ihr erholen konnten sich jedoch längst noch nicht alle. Trotz der wirtschaftlichen Erfolge stolperte Rajoy letztendlich über die Korruption in seiner eigenen Partei.
Für das, was am vergangenen Freitag in Madrid passiert ist, gibt es je nach politischer Couleur zwei Sichtweisen: Die einen nennen es „Staatsstreich“, die anderen „Handstreich“. Beiden Interpretationen ist immerhin gemein, dass es sich um ein unerwartet und überraschend eingetretenes Ereignis gehandelt haben muss. So ist es auch: Spanien hat ganz plötzlich eine neue Regierung. Wie es dazu gekommen ist, hat allerdings schon etwas Verwegenes an sich. Dem Sozialisten Pedro Sánchez ist es erstmals in der Geschichte der jüngeren spanischen Demokratie gelungen, einen amtierenden Regierungschef per Misstrauensvotum zu stürzen. Erwartet haben es noch nicht einmal die eigenen Leute, dass der PSOE-Chef seinen Widerpart Mariano Rajoy tatsächlich aus dem Amt kickt. Und noch immer reibt man sich in Spanien verwundert die Augen, dass sieben Jahre Volkspartei-Regentschaft quasi über Nacht vorbei sind.
Vorbei ist auch Rajoys Zeit als Parteivorsitzender. Am Dienstag erklärt er bei einer Vorstandssitzung der Volkspartei seinen Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden. „Das ist das Beste für die PP, für Spanien und für mich“, sagt der 63-Jährige in einer emotionalen Rede vor der Parteiführung. Seit 2004 hatte Rajoy die PP geführt. Ein Nachfolger soll in Bälde bei einem Parteitag gewählt werden. Als Favorit gilt der galicische Regierungschef Alberto Núñez Feijóo.
Der Machtwechsel von Rajoy auf Sánchez vollzieht sich in Rekordtempo: Am Abend des 23. Mai sitzt die Volkspartei-Führung in einem parlamentsnahen Restaurant zusammen. Man feiert. Kurz zuvor hat die Regierung Rajoy den Haushalt 2018 im Parlament durchgebracht. Mit den Stimmen der fünf Abgeordneten der baskischen Nationalisten von PNV. Der Preis: gut eine halbe Milliarde Euro zusätzlich für das Baskenland. Die Legislaturperiode scheint für Rajoy mit der Verabschiedung des Etats gesichert. Es soll das letzte Mal sein, dass es für die PP etwas zu feiern gibt.
Schon am nächsten Tag wird Rajoys Volkspartei von der Reali- tät eingeholt: Das Nationale Strafgericht verkündet die Urteile im Korruptionsskandal „Gürtel“. Mehrere Ex-Parteimitglieder, darunter der ehemalige Schatzmeister, erhalten hohe Haftstrafen. Auch die PP selbst wird wegen der Verwicklung in den Fall zu einer Geldstrafe von 250.000 Euro verurteilt. Auch Rajoy war als Parteivorsitzender vom Gericht als Zeuge vernommen worden. Der Richter bescheinigt am Tag der Urteilsverkündung seinen Aussagen mangelnde Glaubwürdigkeit. Ein moralischer Tiefschlag für Rajoy.
Das ist das Signal für PSOEChef Sánchez. Er will die Gunst der Stunde nutzen und reicht einen konstruktiven Misstrauensantrag ein. Die Chancen stehen zunächst eher schlecht. Er müsste 176 Stimmen im Parlament hinter sich bringen. Seine Sozialisten aber verfügen nur über 84 Mandate. Immerhin ist das Linksbündnis Unidos Podemos mit seinen 67 Sitzen sofort bereit, den Misstrauensantrag mitzutragen. Die liberalen Ciudadanos sagen Sánchez ab. Sie sind zwar auch für eine Abwahl Rajoys, verlangen aber angesichts ihres Umfragehochs eine sofortige Neuwahl. Dazu ist Sánchez nicht bereit.
Rajoy will das Problem schnell vom Hals haben. Er drängt Parlamentspräsidentin Ana Pastor zu einem baldigen Termin für die Debatte über den Misstrauensantrag. Pastor bestimmt: Donnerstag, 31. Mai. Schon in den Tagen zuvor kommen Forderungen nach einem freiwilligen Rückzug auf. Die Zeitung „El País“kommentiert: „Mit seiner Weigerung zurückzutreten, beraubt sich Rajoy selbst der letzten Gelegenheit, seine politische Figur mit einer letzten mutigen Entscheidung zu würdigen.“Doch der 63-Jährige setzt auf bewährte Taktik: aussitzen.
Die Basken laufen über
Die Debatte beginnt. Rajoy gibt sich noch kämpferisch und greift Sánchez an: „Mit welcher moralischen Autorität sprechen Sie hier? Sind Sie etwa Mutter Teresa von Kalkutta?“, fragt er mit Blick auf den ERE-Korruptionsskandal in Andalusien, in den die Sozialisten tief verstrickt sind. Gleichzeitig räumt er ein: „Ich sage es nochmal: In der PP gab es Korruption, aber
die PP ist nicht korrupt.“Seinem Widersacher wirft er vor, nur ein Ziel zu verfolgen: selbst an die Macht zu kommen.
Am Nachmittag tragen die intensiven Gespräche Früchte, die Sánchez und seine engsten Mitarbeiter mit den übrigen im Parlament vertretenen Parteien in den vergangenen Tagen und Stunden geführt haben. Der PSOE-Chef kann immer mehr Stimmen hinter sich vereinen. Rajoy bleibt nun der Debatte demonstrativ fern. Mit Vertrauten geht es wieder für Stunden in ein parlamentsnahes Restaurant. Rajoys Stellvertreterin Soraya Sáenz de Santamaría stellt im Parlament ihre Handtasche auf den Sitz neben sich. Um zu zeigen: Dieser Platz ist besetzt. Das Foto davon macht die Runde.
Wieder spielt Katalonien eine tragende Rolle: Die separatistischen Regionalparteien ERC und PDeCAT schlagen sich auf die Seite des PSOE-Chefs. Obwohl auch Sánchez gegen deren Unabhängigkeitskurs ist. Doch die Aussicht überwiegt, Rajoy loszuwerden und mit einer PSOE-geführten Zentralregierung in Madrid einen ernsthaften Dialog beginnen zu können. Als Sánchez den baskischen Nationalisten zusichert, die finanziellen Zusagen an das Baskenland im neuen Haushalt nicht anzutasten, laufen auch die fünf PNV-Parlamentarier über. Sánchez hat die nötige Mehrheit zusammen, um Rajoy abwählen zu lassen. Rajoy dämmert, dass er verlieren wird: „Alles deutet darauf hin, dass die Sozialisten mit ihren Misstrauensantrag durchkommen werden“, sagt Rajoy denn auch am Freitag, 1. Juni, vor der entscheidenden Sitzung. „Als Demokrat werde ich das Ergebnis akzeptieren.“Die namentliche Abstimmung ist nur noch Formsache. 180 Abgeordnete stimmen mit „Ja“für den SánchezAntrag, 169-mal ertönt ein „Nein“. Rajoy ist gestürzt, und Spanien hat einen neuen Regierungschef. Es ist der erste erfolgreiche Misstrauensantrag seit dem Ende der FrancoDiktatur. Die drei vorangegangenen sind gescheitert.
Allerdings hat die PSOE 2004 schon einmal überraschend das Ruder von der PP übernommen. Damals ging José Luis Rodríguez Zapatero siegreich aus der Parlamentswahl hervor und beendete – entgegen aller Prognosen – die acht Jahre konservativer Regierung José María Aznars. Die Verbrüderung mit George Bush und Tony Blair beim Azoren-Gipfel 2003, die Unterstützung des Irak-Kriegs und die offenkundige Lüge über die Urheberschaft des Attentates auf die Nahverkehrszüge in Madrid mit 191 Toten drei Tage vor der Wahl wurden Aznar und seiner Volkspartei nicht verziehen.
Was wurde Mariano Rajoy nicht verziehen, dass die Mehrheit der Parlamentarier ihm jetzt die rote Karte zeigten? Der gebürtige Galicier hatte 2011 – auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise – mit 186 Sitzen die absolute Mehrheit errungen und damit mehr Unterstützung als Aznar in seiner zweiten Legislaturperiode bekommen. Rajoy musste einen Sparhaushalt durchsetzen, der dem Land sechs Millionen Arbeitslose bescherte. Die Regierung erleichterte die Entlassungen, köderte Schwarzgelder mit einer Steuersünder-Amnestie und schleuste Milliarden Euro, auch aus dem europäischen Rettungsfonds, in die Rettung maroder Banken, die sich im Immobilien-Boom verspekuliert hatten.
Im Dezember 2014 verkündete der Ministerpräsident und Vorsitzende der PP: „Die Krise ist Geschichte“. Das tat er noch oft, aber tatsächlich kam die wirtschaftliche Erholung, die sich in Statistiken so gut machte, nicht bei allen an. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich nahm zu. Der Unmut ebenfalls. Um die Demonstrationen im Zaum zu halten, verabschiedete die Volkspartei ein Gesetz zur Bürgersicherheit, das wegen seiner Strenge als „Maulkorbgesetz“bekannt wurde.
Die Demonstranten durften sich dem Parlament nicht nähern, Fotografen keine Aufnahmen der Sicherheitskräfte machen, Polizisten durften Verdächtige sofort durchsuchen und hohe Strafen austeilen. Das Verfassungsgericht bestätigte Ende 2016 die Rechtmäßigkeit. Im Frühjahr 2018 waren es ausgerechnet die Rentner, die bei ihren Protesten für würdige Ruhegelder die Abschirmungen stürmten und das Parlament umzingelten.
Im Dezember 2015 hat Rajoy noch einmal die Wahlen gewonnen, diesmal jedoch ohne absolute Mehrheit und erstmals mit ernstzunehmenden Konkurrenten jenseits der Sozialisten, die unter Pedro Sánchez ihr schlechtestes Ergebnis in 40 Jahren Demokratie einfuhren. An dritter Stelle kamen die Protestpartei Podemos mit ihrem charismatischen Chef Pablo Iglesias und mit der liberalen Ciudadanos unter Albert Rivera eine vierte Partei ins Spiel. Da Rajoy nicht die nötigen Stimmen für seine Kandidatur als Regierungschef zusammenbekam, überließ er Pedro Sánchez und Pablo Iglesias das Feld. Als auch sie scheiterten, wurde am 26. Juni 2016 noch einmal gewählt. Wieder blieb die PP stärkste Partei, aber ohne Macht zur Regierungsbildung. Die gelang erst, als sich die PSOE (bis auf 15 ungehorsame Parlamentarier) enthielt. Rajoy bildete mit 170 gegen 180 Abgeordnete eine Minderheitsregierung. Albert Rivera von Ciudadanos galt als Verbündeter – schon allein, weil Rajoy im Katalonien-Konflikt um die Unabhängigkeit der Region keinerlei Entgegenkommen zeigte, und der Katalane Rivera unbedingt für die Einheit Spaniens ist.
2006 hatte die PP aus der Opposition heraus das Autonomiestatut Kataloniens vor dem Verfassungsgericht angefochten und damit eine Mine losgetreten. Der Sündenfall gewissermaßen. Rajoy zeigte später nicht nur kein Entgegenkommen, sondern nicht einmal Dialogbereitschaft. Stattdessen erleichterte ein Königliches Dekret es Firmen, ihren Gesellschaftssitz aus Katalonien abzuziehen, der Haushalt wurde – noch vor der Zwangsverwaltung – von Finanzminister Cristóbal Montoro interveniert.
Rajoy saß den Konflikt aus und überließ es den Gerichten, aufmüpfige Politiker zu maßregeln oder ins Gefängnis zu stecken. Eine Verfassungsreform mit mehr Rechten für einzelne Regionen lehnte er ab. Die stellvertretende Regierungschefin Soraya Sáenz de Santamaría als Übermittlerin dieser Haltung erreichte nichts. Der Konflikt eskalierte.
Parallel schwelten die Korruptionsfälle, die direkt Mitglieder der PP betrafen: Gürtel, Púnica, Lezo und Taula. Rajoy wurde im Gürtel-Skandal vor dem Nationalen Strafgericht als Zeuge vernommen. Es war das erste Mal, dass ein amtierender Regierungschef vor Gericht erscheinen musste. Er stritt ab, dass die Partei sich illegal finanziert habe. Rajoy meinte, dass seine Partei mit der Korruption