Neuer Anlauf
Mitfavorit Spanien will in Russland die Pleite von Brasilien vergessen
Bei der letzten Fußball-WM in Brasilien war Spanien als Titelverteidiger krachend gescheitert. In Russland will La Roja (dt.: die Rote) die Schmach von vor vier Jahren wieder gut machen. Von Experten wird die Elf erneut als einer der Topfavoriten gehandelt. Woran der Nationaltrainer Julen Lopetegui, der nach der EM 2016 in Frankreich das Ruder übernahm, einen entscheidenden Anteil hat. Er konnte den Abwärtstrend nach der goldenen Ära, in der Spanien den Weltfußball dominierte, wieder umkehren. Doch nur zwei Tage vor dem Debüt der spanischen Auswahl ist er wegen seines angekündigten Wechsels zu Real Madrid entlassen worden.
Der 13. Juni 2014 ist nicht der Tag des fünfmaligen Welttorhüters Iker Casillas. In der Auftaktpartie der Fußball-WM in Brasilien gegen die Niederlande steht es aus Sicht des Titelverteidigers gegen die Niederlande bereits 1:3, als sich Casillas einen weiteren folgenschweren Patzer leistet. Nach einem harmlosen Rückpass springt ihm der Ball zu weit vom Fuß, van Persie schiebt ein – 1:4. Es kommt noch schlimmer. In der 80. Minute ist Robben auf und davon, Casillas irrt im Strafraum herum, Robben schiebt ein – 1:5. Auch das zweite Spiel gegen Chile verliert Spanien mit 0:2. Der Titelverteidiger fährt schon nach der Vorrunde nach Hause.
Vier Jahre später soll eigentlich die Operation Wiedergutmachung starten. Wäre da nicht die Posse um Nationaltrainer Julen Lopetegui. Nur einen Tag nach der Bekanntgabe, dass er bei Real Madrid die Nachfolge von Zinedine Zidane übernimmt, wurde Lopetegui am Mittwoch entlassen. Zwei Tage vor dem ersten WM-Spiel.
Am Donnerstag, 14. Juni, hat die Fußball-WM in Russland be- gonnen. Spanien traf bereits vor einer Woche im WM-Quartier im südrussischen Krasnodar ein. König Felipe und der neue Sportminister Máxim Huerta hatten die Mannschaft um Kapitän Sergio Ramos und Spielmacher Andrés Iniesta im Trainingszentrum Las Rozas bei Madrid verabschiedet. „Wir kommen, um ein Land zu repräsentieren, das mit Hoffnung das Beste von uns erwartet“, twitterte das Team zur Abreise. Das Beste heißt: den Titel. Nach dem WM-Gewinn 2010 in Südafrika soll Russland den zweiten Stern auf die Brust bringen.
Die Hoffnungen aus der Heimat, die das Team an jenem Donnerstag begleiteten, beruhten auf mehreren Faktoren. Nach der Pleite bei der WM in Brasilien vor vier Jahren und dem frühen Aus im Achtelfinale bei der EM in Frankreich 2016 schien die große Zeit von Spaniens Nationalmannschaft mit zwei EM- und einem WM-Titel vorbei. Dass die Mannschaft aus dem Tief zurück ist, hat mit einer Personalie zu tun: Nationaltrainer Julen Lopetegui.
Der 51-Jährige übernahm nach der Enttäuschung bei der EM in Frankreich im Juli 2016 das Team vom großen, zuletzt aber wenig inspirierenden Vicente del Bosque. Lopetegui war zuletzt Trainer des FC Porto. Seine einzige Referenz damals: Mit der spanischen U21 hatte er 2013 den Europameistertitel geholt. Damalige Spieler wie Mittelfeldstar Isco Alarcón von Real Madrid, Thiago Alcántara von Bayern München oder Torhüter David de Gea von Manchester United sind heute feste Größen im A-Team. Die Entscheidung des Verbands, Lopetegui mit der DelBosque-Nachfolge zu betrauen, erwies sich als goldrichtig.
„Wir werden keine Revolution in Gang setzen“, hatte Lopetegui bei Amtsantritt gesagt. Weiterentwicklung lautete die Losung. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Unter seine Ägide – bislang 20 Spiele – ist Spanien noch immer ungeschlagen und überhaupt der einzige der 32 WM-Teilnehmer in Russland ohne Niederlage seit der EM 2016. Die Qualifikation für die WM gelang zudem ohne Mühe. Der Verband weiß also, was er an Lopetegui hat. Ende Mai wurde sein Vertrag um zwei Jahre bis 2020 verlängert.
Doch mitten in die Vorbereitungen auf das erste WM-Spiel am Freitag gegen Europameister Portugal platzte die NachrichtenBombe: Lopetegui wird neuer Trainer von Real Madrid und nach der WM die Nachfolge von Zinedine Zidane bei den „Königlichen“antreten. Die Spieler sollen perplex auf die Meldung reagiert haben, wie die Zeitung „El País“am Mittwoch berichtete. Bei ihr kam die Personalie jedenfalls nicht sonderlich gut an: „Zwei Tage vor Beginn der WM sollte man es nicht riskieren, Brandstifter im eigenen Haus zu sein.“
Fassungslosigkeit herrscht
Das sah der Verband offenbar ähnlich: Nur einen Tag später war Lopetegui seinen Job los. Verbandschef Luis Rubiales verkündete am Mittwoch die Entlassung des Trainers. In Spanien herrscht Fassungslosigkeit. Plötzlich ist die Operation Wiedergutmachung in Gefahr. Die Stimmung in der Öffentlichkeit ist auf dem Tiefpunkt.
Die Hoffnungen in der Heimat auf eine gute WM beruhten
schließlich auf den Eindrücken, die das Lopetegui-Team im Frühjahr bei zwei Testspielen hinterlassen hatte. So lieferten sich Spanien und Deutschland im März in Düsseldorf beim 1:1 einen spektakulären Schlagabtausch. Die spanische Sportpresse sah ihre Mannschaft wieder auf dem richtigen Weg: „Auf der Höhe des Weltmeisters. Zufrieden, ohne anzugeben. Die Mannschaft gegen La Roja – oder: das größte Spektakel der Fußballwelt. Die beiden letzten Weltmeister haben ihre Bewerbung für einen weiteren Stern in Russland eingereicht“, kommentierte „As“das Spiel.
„El País“sah das Spiel wie folgt: „Von Weltmeister zu Weltmeister. Deutschland und Spanien begegnen sich in einem Spiel auf Augenhöhe, in dem sich beide Mannschaften mit dem Ball besser fühlen als ohne.“Oder „El Mundo“: „Unentschieden zwischen Weltmeistern. Deutschland und Spanien zeigen eine großartige, schwindelerregende FußballNacht, in der alle gewinnen. Es war ein fantastisches Fußballspiel. Spanien war groß. Doch die Mannschaft von Löw spielte einen faszinierenden Fußball.“
„Weckt viele gute Gefühle“
Wenige Tage nach dem Spiel in Düsseldorf fertigte die LopeteguiTruppe Argentinien mit 6:1 ab. Seit diesen beiden Spielen galt Spanien als ein heißer Anwärter auf den Titel in Russland. „Die Selección weckt viele gute Gefühle“, meinte die Sportzeitung „Marca“. Auch Wettanbieter wie etwa „betat-home.com“zählen Spanien neben Brasilien, Deutschland und Frankreich zu den Favoriten auf den WM-Gewinn.
Trainer Lopetegui schien sich mit der Favoritenrolle Spaniens arrangiert zu haben: „Das ist zum Beispiel etwas, was ich nicht kontrollieren kann. Wir müssen es einfach akzeptieren, ohne uns verrückt zu machen“, sagte der Coach im Interview mit der deutschen Fußball-Zeitung „Kicker“. „Natürlich motiviert solch eine WM viele Experten und Journalisten zu Prognosen. Aber diese werden uns nicht helfen, das Turnier zu gewinnen.“
Auch die beiden Testspiele gegen Deutschland und Argentinien will der 51-Jährige nicht überbewerten: „Vergesst die Vergangenheit, daraus lassen sich im Fußball kaum konkrete Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Ich versuche nicht so sehr, mir auf ein Testspiel etwas einzubilden.“Nach den wenig berauschenden Testspielen mit dem 1:1 vor Wochenfrist gegen die Schweiz sowie dem mageren 1:0Sieg über Tunesien am vergangenen Samstag eine eher typische Trainer-Aussage.
Wirft man einen Blick auf die Fifa-Weltrangliste, erschien Lopeteguis Tiefstapelei durchaus verständlich. Demnach dürfte Spanien in Russland nur eine Außenseiterchance haben. La Roja ist nur auf dem zehnten Platz zu finden. Noch hinter Mannschaften wie Schweiz oder Polen. Betrachtet man indes den Kader, mit dem Lopetegui nach Russland gefahren ist, relativiert sich die Aussagekraft der Fifa-Liste allerdings schnell.
Das Gerüst des WM-Teams bilden noch immer einige Routiniers, die 2010 den Titel holten. Dazu zählen die Innenverteidiger Sergio Ramos von Real Madrid und Gerard Piqúe vom FC Barcelona. Auch die Mittelfeldspieler David Silva von Manchester City und Sergio Busquets waren schon in Südafrika dabei. Gleiches gilt für den Star der Mannschaft und Torschützen des Goldenen Tores im WMFinale gegen die Niederlande – Andrés Iniesta. Der 34-jährige ExBarça-Kapitän zählt selbst im Spätherbst seiner Karriere noch zu den Impulsgebern der Mannschaft.
Um die Routiniers gruppierte Lopetegui eine Reihe von jungen Talenten, die sich in der heimischen Primera División als Stammkräfte bewährt haben. Vor allem im Mittelfeld, für das Spanien ohnehin aus dem Vollen schöpfen kann, steht mit Isco Alarcón oder Saúl Ñíguez (Atlético), die nächste vielversprechende Spielmacher-Generation in den Startlöchern. Wenn es einen Schwachpunkt im Kader gibt, dann ist
er im An- griff zu finden. Routinier Diego Costa von Atlético de Madrid wusste zuletzt nicht zu überzeugen. Die Alternative ist Rodrigo Moreno vom FC Valencia, ein jedoch international unerfahrener Mittelstürmer.
Lopetegui bevorzugte ein 4-3-3System. Busquets spielt dabei einen tiefer stehenden Sechser. Davor agiert ein Duo, in dem Iniesta gesetzt ist. Ihm zur Seite gestellt werden können alternativ Koke (Atlético), Thiago (Bayern), Isco (Real) oder Ñíguez (Atlético). Rechtsaußen wird sicherlich David Silva auflaufen. Links sind wiederum Isco oder aber Real-Teamkollege und Youngster Marco Asensio denkbar. Lucas Vázquez (Real) und Iago Aspas (Celta Vigo) stehen auf dem rechten Flügel zur Verfügung.
Die Mischung aus erfahrenen Kräften und aufstrebenden Talenten, aber auch die Tiefe der Qualität im Kader rechtfertigen die Rolle eines heißen Mitfavoriten auf den Titel in Russland. Es gibt nach Meinung vieler Fußball-Experten nur wenige Teams bei der WM, die eine ähnliche spielerische Qualität besitzen. Wobei die Stärke des Talentschuppens eher in der Offensive zu finden sei. Bei einem Ausfall von Busquets sowie Ramos oder Piqué in der Defensive dürfte Spanien dagegen ein Problem haben, die Lücken adäquat zu füllen.
Noch immer spielt die „Selección“diesen schnellen, präzisen und sicheren Fußball, „Tiki-Taka“genannt. An dem dominierenden Kurzpassspiel hat sich auch unter Lopetegui wenig geändert. Vor zehn Jahren bei der EM ging der Stern des spanischen Fußball-Stils auf. Zwei Jahre später folgte der WM-Titel in Südafrika, wieder zwei Jahre später die Titelverteidigung bei der EM mit einem 4:0 im Finale über Italien. Spanien war die Fußball-Weltmacht. Die Spielweise diente vor allem dem deutschen Bundestrainer Löw als Blaupause für die Entwicklung der Mannschaft.
Hinter dem Aufstieg Spaniens zur Weltmacht im Fußball steckt durchaus Methode: Spaniens Fußball erhielt den entscheidenden Kick mit der Ankunft des Holländers Johan Cryff in Barcelona in den 70er Jahren. Später als Trainer des FC Barcelona (1988 - 1995) kreierte Cryff den sogenannten „totalen Fußball“. Die Grundphilosophie, die dahinter steckt, ist simpel: Wer den Ball hat, gibt dem Gegner keine Chance, ein Tor zu erzielen. Barça-Coach Pep Guardiola verfeinerte Jahre später den gepflegten
Fuß- ball. 14 Titel mit dem FC Barcelona sprechen eine deutliche Sprache. Die Erfolge gingen auch auf das Konto eines neuen Typus von Spieler: technisch perfekt ausgebildet, ballgewandt und passsicher. Diese Spieler bildeten fortan das Rückgrat der Nationalmannschaft, die nun ein ähnliches Rasenschach zelebrierte wie der katalanische VorzeigeClub. Auch in der Jugendarbeit, in der Spanien ebenfalls führend ist, wurde auf die entsprechende Ausbildung der Spieler Wert gelegt.
Für den zweiten WM-Titel nach 2010 ist der spanische Fußballverband bereit, tief in die Tasche zu greifen. Vor vier Jahren, Spanien war gerade im Begriff, sich aus der tiefen Wirtschaftskrise zu befreien, war die Prämie allerdings ein höchst umstrittenes Thema. 720.000 Euro hätte jeder Spieler für eine erfolgreiche Titelverteidigung erhalten. In den Sozialen Netzwerken war die Empörung über diese Summe groß. Vier Jahre später regt sich keiner mehr auf: 825.000 Euro pro Spieler wären es bei einem WM-Gewinn in Russland. Kein Verband schüttet mehr aus. Zum Vergleich: Die deutschen Nationalspieler würden für die Titelverteidigung jeweils 350.000 Euro einstreichen.
Auftakt gegen Europameister
Schon am zweiten Spieltag der WM in Russland greift das spanische Team ins Geschehen ein. Der erste Gegner am Freitag, 15. Juni, in Sotschi (20 Uhr) ist gleich ein echter Prüfstein: Europameister Portugal mit Weltfußballer Cristiano Ronaldo. Anschließend wird man nach den Turbulenzen um Lopetegui wissen, wo das Team steht. Die weiteren Gegner in der Vorrunde heißen Iran am 20. Juni in Kazan sowie Marokko am 25. Juni in Kaliningrad.
Weil noch ganz frisch in Erinnerung, wurde die Hoffnung in der Heimat auf ein erfolgreiches Abschneiden der „Selección“bei der WM bis zuletzt noch immer von dem Triumph spanischer Vereine in den europäischen Wettbewerben getragen: Real Madrid gewann zum dritten Mal in Folge die Champions League, Atlético de Madrid die Europa League. Ohnehin dominieren spanische Vereine beide Wettbewerbe seit Jahren. Doch „Marca“hatte einen Blick in die Statistik geworfen und dämpfte die Euphorie der Landsleute.
„Der Fluch der Champions League“titelte das Sportblatt einen Beitrag. Und stellte fest: Jedes Mal, wenn im Jahr einer EM oder WM einer der beiden Clubs Real Madrid und FC Barcelona den Europapokal holten, reichte es für die Nationalmannschaft allenfalls bis ins Viertelfinale. Ein schlechtes Omen für Russland also.
„Vergesst die Vergangenheit, daraus lassen sich im Fußball kaum konkrete Schlüsse für die Gegenwart ziehen“