Costa del Sol Nachrichten

Neuer Anlauf

Mitfavorit Spanien will in Russland die Pleite von Brasilien vergessen

- Thomas Liebelt

Bei der letzten Fußball-WM in Brasilien war Spanien als Titelverte­idiger krachend gescheiter­t. In Russland will La Roja (dt.: die Rote) die Schmach von vor vier Jahren wieder gut machen. Von Experten wird die Elf erneut als einer der Topfavorit­en gehandelt. Woran der Nationaltr­ainer Julen Lopetegui, der nach der EM 2016 in Frankreich das Ruder übernahm, einen entscheide­nden Anteil hat. Er konnte den Abwärtstre­nd nach der goldenen Ära, in der Spanien den Weltfußbal­l dominierte, wieder umkehren. Doch nur zwei Tage vor dem Debüt der spanischen Auswahl ist er wegen seines angekündig­ten Wechsels zu Real Madrid entlassen worden.

Der 13. Juni 2014 ist nicht der Tag des fünfmalige­n Welttorhüt­ers Iker Casillas. In der Auftaktpar­tie der Fußball-WM in Brasilien gegen die Niederland­e steht es aus Sicht des Titelverte­idigers gegen die Niederland­e bereits 1:3, als sich Casillas einen weiteren folgenschw­eren Patzer leistet. Nach einem harmlosen Rückpass springt ihm der Ball zu weit vom Fuß, van Persie schiebt ein – 1:4. Es kommt noch schlimmer. In der 80. Minute ist Robben auf und davon, Casillas irrt im Strafraum herum, Robben schiebt ein – 1:5. Auch das zweite Spiel gegen Chile verliert Spanien mit 0:2. Der Titelverte­idiger fährt schon nach der Vorrunde nach Hause.

Vier Jahre später soll eigentlich die Operation Wiedergutm­achung starten. Wäre da nicht die Posse um Nationaltr­ainer Julen Lopetegui. Nur einen Tag nach der Bekanntgab­e, dass er bei Real Madrid die Nachfolge von Zinedine Zidane übernimmt, wurde Lopetegui am Mittwoch entlassen. Zwei Tage vor dem ersten WM-Spiel.

Am Donnerstag, 14. Juni, hat die Fußball-WM in Russland be- gonnen. Spanien traf bereits vor einer Woche im WM-Quartier im südrussisc­hen Krasnodar ein. König Felipe und der neue Sportminis­ter Máxim Huerta hatten die Mannschaft um Kapitän Sergio Ramos und Spielmache­r Andrés Iniesta im Trainingsz­entrum Las Rozas bei Madrid verabschie­det. „Wir kommen, um ein Land zu repräsenti­eren, das mit Hoffnung das Beste von uns erwartet“, twitterte das Team zur Abreise. Das Beste heißt: den Titel. Nach dem WM-Gewinn 2010 in Südafrika soll Russland den zweiten Stern auf die Brust bringen.

Die Hoffnungen aus der Heimat, die das Team an jenem Donnerstag begleitete­n, beruhten auf mehreren Faktoren. Nach der Pleite bei der WM in Brasilien vor vier Jahren und dem frühen Aus im Achtelfina­le bei der EM in Frankreich 2016 schien die große Zeit von Spaniens Nationalma­nnschaft mit zwei EM- und einem WM-Titel vorbei. Dass die Mannschaft aus dem Tief zurück ist, hat mit einer Personalie zu tun: Nationaltr­ainer Julen Lopetegui.

Der 51-Jährige übernahm nach der Enttäuschu­ng bei der EM in Frankreich im Juli 2016 das Team vom großen, zuletzt aber wenig inspiriere­nden Vicente del Bosque. Lopetegui war zuletzt Trainer des FC Porto. Seine einzige Referenz damals: Mit der spanischen U21 hatte er 2013 den Europameis­tertitel geholt. Damalige Spieler wie Mittelfeld­star Isco Alarcón von Real Madrid, Thiago Alcántara von Bayern München oder Torhüter David de Gea von Manchester United sind heute feste Größen im A-Team. Die Entscheidu­ng des Verbands, Lopetegui mit der DelBosque-Nachfolge zu betrauen, erwies sich als goldrichti­g.

„Wir werden keine Revolution in Gang setzen“, hatte Lopetegui bei Amtsantrit­t gesagt. Weiterentw­icklung lautete die Losung. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Unter seine Ägide – bislang 20 Spiele – ist Spanien noch immer ungeschlag­en und überhaupt der einzige der 32 WM-Teilnehmer in Russland ohne Niederlage seit der EM 2016. Die Qualifikat­ion für die WM gelang zudem ohne Mühe. Der Verband weiß also, was er an Lopetegui hat. Ende Mai wurde sein Vertrag um zwei Jahre bis 2020 verlängert.

Doch mitten in die Vorbereitu­ngen auf das erste WM-Spiel am Freitag gegen Europameis­ter Portugal platzte die Nachrichte­nBombe: Lopetegui wird neuer Trainer von Real Madrid und nach der WM die Nachfolge von Zinedine Zidane bei den „Königliche­n“antreten. Die Spieler sollen perplex auf die Meldung reagiert haben, wie die Zeitung „El País“am Mittwoch berichtete. Bei ihr kam die Personalie jedenfalls nicht sonderlich gut an: „Zwei Tage vor Beginn der WM sollte man es nicht riskieren, Brandstift­er im eigenen Haus zu sein.“

Fassungslo­sigkeit herrscht

Das sah der Verband offenbar ähnlich: Nur einen Tag später war Lopetegui seinen Job los. Verbandsch­ef Luis Rubiales verkündete am Mittwoch die Entlassung des Trainers. In Spanien herrscht Fassungslo­sigkeit. Plötzlich ist die Operation Wiedergutm­achung in Gefahr. Die Stimmung in der Öffentlich­keit ist auf dem Tiefpunkt.

Die Hoffnungen in der Heimat auf eine gute WM beruhten

schließlic­h auf den Eindrücken, die das Lopetegui-Team im Frühjahr bei zwei Testspiele­n hinterlass­en hatte. So lieferten sich Spanien und Deutschlan­d im März in Düsseldorf beim 1:1 einen spektakulä­ren Schlagabta­usch. Die spanische Sportpress­e sah ihre Mannschaft wieder auf dem richtigen Weg: „Auf der Höhe des Weltmeiste­rs. Zufrieden, ohne anzugeben. Die Mannschaft gegen La Roja – oder: das größte Spektakel der Fußballwel­t. Die beiden letzten Weltmeiste­r haben ihre Bewerbung für einen weiteren Stern in Russland eingereich­t“, kommentier­te „As“das Spiel.

„El País“sah das Spiel wie folgt: „Von Weltmeiste­r zu Weltmeiste­r. Deutschlan­d und Spanien begegnen sich in einem Spiel auf Augenhöhe, in dem sich beide Mannschaft­en mit dem Ball besser fühlen als ohne.“Oder „El Mundo“: „Unentschie­den zwischen Weltmeiste­rn. Deutschlan­d und Spanien zeigen eine großartige, schwindele­rregende FußballNac­ht, in der alle gewinnen. Es war ein fantastisc­hes Fußballspi­el. Spanien war groß. Doch die Mannschaft von Löw spielte einen fasziniere­nden Fußball.“

„Weckt viele gute Gefühle“

Wenige Tage nach dem Spiel in Düsseldorf fertigte die LopeteguiT­ruppe Argentinie­n mit 6:1 ab. Seit diesen beiden Spielen galt Spanien als ein heißer Anwärter auf den Titel in Russland. „Die Selección weckt viele gute Gefühle“, meinte die Sportzeitu­ng „Marca“. Auch Wettanbiet­er wie etwa „betat-home.com“zählen Spanien neben Brasilien, Deutschlan­d und Frankreich zu den Favoriten auf den WM-Gewinn.

Trainer Lopetegui schien sich mit der Favoritenr­olle Spaniens arrangiert zu haben: „Das ist zum Beispiel etwas, was ich nicht kontrollie­ren kann. Wir müssen es einfach akzeptiere­n, ohne uns verrückt zu machen“, sagte der Coach im Interview mit der deutschen Fußball-Zeitung „Kicker“. „Natürlich motiviert solch eine WM viele Experten und Journalist­en zu Prognosen. Aber diese werden uns nicht helfen, das Turnier zu gewinnen.“

Auch die beiden Testspiele gegen Deutschlan­d und Argentinie­n will der 51-Jährige nicht überbewert­en: „Vergesst die Vergangenh­eit, daraus lassen sich im Fußball kaum konkrete Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Ich versuche nicht so sehr, mir auf ein Testspiel etwas einzubilde­n.“Nach den wenig berauschen­den Testspiele­n mit dem 1:1 vor Wochenfris­t gegen die Schweiz sowie dem mageren 1:0Sieg über Tunesien am vergangene­n Samstag eine eher typische Trainer-Aussage.

Wirft man einen Blick auf die Fifa-Weltrangli­ste, erschien Lopeteguis Tiefstapel­ei durchaus verständli­ch. Demnach dürfte Spanien in Russland nur eine Außenseite­rchance haben. La Roja ist nur auf dem zehnten Platz zu finden. Noch hinter Mannschaft­en wie Schweiz oder Polen. Betrachtet man indes den Kader, mit dem Lopetegui nach Russland gefahren ist, relativier­t sich die Aussagekra­ft der Fifa-Liste allerdings schnell.

Das Gerüst des WM-Teams bilden noch immer einige Routiniers, die 2010 den Titel holten. Dazu zählen die Innenverte­idiger Sergio Ramos von Real Madrid und Gerard Piqúe vom FC Barcelona. Auch die Mittelfeld­spieler David Silva von Manchester City und Sergio Busquets waren schon in Südafrika dabei. Gleiches gilt für den Star der Mannschaft und Torschütze­n des Goldenen Tores im WMFinale gegen die Niederland­e – Andrés Iniesta. Der 34-jährige ExBarça-Kapitän zählt selbst im Spätherbst seiner Karriere noch zu den Impulsgebe­rn der Mannschaft.

Um die Routiniers gruppierte Lopetegui eine Reihe von jungen Talenten, die sich in der heimischen Primera División als Stammkräft­e bewährt haben. Vor allem im Mittelfeld, für das Spanien ohnehin aus dem Vollen schöpfen kann, steht mit Isco Alarcón oder Saúl Ñíguez (Atlético), die nächste vielverspr­echende Spielmache­r-Generation in den Startlöche­rn. Wenn es einen Schwachpun­kt im Kader gibt, dann ist

er im An- griff zu finden. Routinier Diego Costa von Atlético de Madrid wusste zuletzt nicht zu überzeugen. Die Alternativ­e ist Rodrigo Moreno vom FC Valencia, ein jedoch internatio­nal unerfahren­er Mittelstür­mer.

Lopetegui bevorzugte ein 4-3-3System. Busquets spielt dabei einen tiefer stehenden Sechser. Davor agiert ein Duo, in dem Iniesta gesetzt ist. Ihm zur Seite gestellt werden können alternativ Koke (Atlético), Thiago (Bayern), Isco (Real) oder Ñíguez (Atlético). Rechtsauße­n wird sicherlich David Silva auflaufen. Links sind wiederum Isco oder aber Real-Teamkolleg­e und Youngster Marco Asensio denkbar. Lucas Vázquez (Real) und Iago Aspas (Celta Vigo) stehen auf dem rechten Flügel zur Verfügung.

Die Mischung aus erfahrenen Kräften und aufstreben­den Talenten, aber auch die Tiefe der Qualität im Kader rechtferti­gen die Rolle eines heißen Mitfavorit­en auf den Titel in Russland. Es gibt nach Meinung vieler Fußball-Experten nur wenige Teams bei der WM, die eine ähnliche spielerisc­he Qualität besitzen. Wobei die Stärke des Talentschu­ppens eher in der Offensive zu finden sei. Bei einem Ausfall von Busquets sowie Ramos oder Piqué in der Defensive dürfte Spanien dagegen ein Problem haben, die Lücken adäquat zu füllen.

Noch immer spielt die „Selección“diesen schnellen, präzisen und sicheren Fußball, „Tiki-Taka“genannt. An dem dominieren­den Kurzpasssp­iel hat sich auch unter Lopetegui wenig geändert. Vor zehn Jahren bei der EM ging der Stern des spanischen Fußball-Stils auf. Zwei Jahre später folgte der WM-Titel in Südafrika, wieder zwei Jahre später die Titelverte­idigung bei der EM mit einem 4:0 im Finale über Italien. Spanien war die Fußball-Weltmacht. Die Spielweise diente vor allem dem deutschen Bundestrai­ner Löw als Blaupause für die Entwicklun­g der Mannschaft.

Hinter dem Aufstieg Spaniens zur Weltmacht im Fußball steckt durchaus Methode: Spaniens Fußball erhielt den entscheide­nden Kick mit der Ankunft des Holländers Johan Cryff in Barcelona in den 70er Jahren. Später als Trainer des FC Barcelona (1988 - 1995) kreierte Cryff den sogenannte­n „totalen Fußball“. Die Grundphilo­sophie, die dahinter steckt, ist simpel: Wer den Ball hat, gibt dem Gegner keine Chance, ein Tor zu erzielen. Barça-Coach Pep Guardiola verfeinert­e Jahre später den gepflegten

Fuß- ball. 14 Titel mit dem FC Barcelona sprechen eine deutliche Sprache. Die Erfolge gingen auch auf das Konto eines neuen Typus von Spieler: technisch perfekt ausgebilde­t, ballgewand­t und passsicher. Diese Spieler bildeten fortan das Rückgrat der Nationalma­nnschaft, die nun ein ähnliches Rasenschac­h zelebriert­e wie der katalanisc­he VorzeigeCl­ub. Auch in der Jugendarbe­it, in der Spanien ebenfalls führend ist, wurde auf die entspreche­nde Ausbildung der Spieler Wert gelegt.

Für den zweiten WM-Titel nach 2010 ist der spanische Fußballver­band bereit, tief in die Tasche zu greifen. Vor vier Jahren, Spanien war gerade im Begriff, sich aus der tiefen Wirtschaft­skrise zu befreien, war die Prämie allerdings ein höchst umstritten­es Thema. 720.000 Euro hätte jeder Spieler für eine erfolgreic­he Titelverte­idigung erhalten. In den Sozialen Netzwerken war die Empörung über diese Summe groß. Vier Jahre später regt sich keiner mehr auf: 825.000 Euro pro Spieler wären es bei einem WM-Gewinn in Russland. Kein Verband schüttet mehr aus. Zum Vergleich: Die deutschen Nationalsp­ieler würden für die Titelverte­idigung jeweils 350.000 Euro einstreich­en.

Auftakt gegen Europameis­ter

Schon am zweiten Spieltag der WM in Russland greift das spanische Team ins Geschehen ein. Der erste Gegner am Freitag, 15. Juni, in Sotschi (20 Uhr) ist gleich ein echter Prüfstein: Europameis­ter Portugal mit Weltfußbal­ler Cristiano Ronaldo. Anschließe­nd wird man nach den Turbulenze­n um Lopetegui wissen, wo das Team steht. Die weiteren Gegner in der Vorrunde heißen Iran am 20. Juni in Kazan sowie Marokko am 25. Juni in Kaliningra­d.

Weil noch ganz frisch in Erinnerung, wurde die Hoffnung in der Heimat auf ein erfolgreic­hes Abschneide­n der „Selección“bei der WM bis zuletzt noch immer von dem Triumph spanischer Vereine in den europäisch­en Wettbewerb­en getragen: Real Madrid gewann zum dritten Mal in Folge die Champions League, Atlético de Madrid die Europa League. Ohnehin dominieren spanische Vereine beide Wettbewerb­e seit Jahren. Doch „Marca“hatte einen Blick in die Statistik geworfen und dämpfte die Euphorie der Landsleute.

„Der Fluch der Champions League“titelte das Sportblatt einen Beitrag. Und stellte fest: Jedes Mal, wenn im Jahr einer EM oder WM einer der beiden Clubs Real Madrid und FC Barcelona den Europapoka­l holten, reichte es für die Nationalma­nnschaft allenfalls bis ins Viertelfin­ale. Ein schlechtes Omen für Russland also.

„Vergesst die Vergangenh­eit, daraus lassen sich im Fußball kaum konkrete Schlüsse für die Gegenwart ziehen“

 ?? Foto: Alexander Zemlianich­enko/dpa ?? Die Welt zu Gast in Russland: Mit dem Eröffnungs­spiel der Gastgeber gegen Saudi-Arabien wird heute die Fußball-WM angepfiffe­n. Bis zu 32 Nationalma­nnschaften ringen um den begehrten Pokal, der am 15. Juli vergeben wird.
Foto: Alexander Zemlianich­enko/dpa Die Welt zu Gast in Russland: Mit dem Eröffnungs­spiel der Gastgeber gegen Saudi-Arabien wird heute die Fußball-WM angepfiffe­n. Bis zu 32 Nationalma­nnschaften ringen um den begehrten Pokal, der am 15. Juli vergeben wird.
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Foto: Alexander Zemlianich­enko/dpa Die Fußballwel­t blickt nach Russland, wo die Weltmeiste­rschaft begonnen hat. Spanien gilt als einer der Top-Favoriten auf den Titel.
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Foto: Ina Fassbender/dpa Hatte Spanien seit Amtsantrit­t wieder auf Vordermann gebracht: Trainer Julen Lopetegui. Jetzt ist er seinen Job los.
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