Benidorms Stigma
Im Image Benidorms spiegeln sich die Stereotypen der untersten britischen Gesellschaftsschichten
Der Name Benidorm steht als Synonym für englischen Sauftourismus. Wer verbirgt sich hinter den Stereotypen der britischen Working Class, den Chavs?
1970 schrieb John Lennon mit „Working Class Hero“einen Song, dessen Text hochpolitisch war und voller Ironie die Klassenteilung der britischen Gesellschaft der 50er und 60er Jahre beschrieb. Der wirtschaftliche Wohlstand des Vereinigten Königreichs in jenen Jahren basierte auf der harten Arbeit der Arbeiterklasse, die Lennon gut aus seiner Kindheit und frühen Jugend kannte. Das Lied wollte an einer klassenübergreifenden Bewegung Kritik üben, die der Musiker aus Liverpool bei wohlhabenden Arbeitern beobachtete, die ihre gesellschaftliche Klasse verließen, um von der Maschinerie der Mittelklasse absorbiert zu werden.
Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und der Degradierungsprozess der Bezeichnung „Arbeiter“hält weiter an. Dies ist kein Phänomen, das den Söhnen Britanniens vorbehalten ist. Auch unter den Kindern Hispaniens – mit seinen 3,5 Millionen offiziell gemeldeten Erwerbslosen und einer Jugendarbeitslosenquote von derzeit 33,4 Prozent – ist es heute schwierig, jemanden zu finden, der sich selbst als „Arbeiter“definiert. Die Modernität und die erodierenden Anstrengungen der neoliberal agierenden Parteien Europas haben es geschafft, dass dieses Wort für immer verdammt scheint und niemals wieder das Substantiv wiedererlangen wird, das man ihm einst hintenan stellte: Stolz.
Ein Beispiel dafür ist Benidorm. Die touristische Hauptstadt der Costa Blanca ist ohne Zweifel das Urlaubsmekka der britischen und spanischen Arbeiterklasse, ob noch aktiv oder in der „Rentnerversion“. Bedauerlicherweise ist der Name dieser Stadt gleichermaßen Synonym für Geschmacklosigkeit, für Genital-, Pöbel- und Sauftourismus, für sinn- und schamlose Partys, die gewöhnlich mit Verletzten, Erniedrigungen oder sogar Toten enden. Eine etwas ungerechte, weil überspitzte Wahrnehmung, denn in Benidorm haben auch tausende Familien sowie ruhige Rentnerpaare schon ein paar entspannte Tage in der Sonne genossen, ohne Probleme oder Komplikationen.
Doch all diese positiven Erfahrungen hinterlassen normalerweise keine Spuren in den Medien und können kaum der dort präsentierten, ernüchternden Realität entgegenwirken, die von Fällen wie dem der jungen Schottin Kirsty Maxwell bestimmt sind, die vor eineinhalb Jahren unter höchst sonderbaren Umständen in Benidorm ums Leben kam. Der Dokumentarfilm „Killed abroad“, den BBC One Scotland kürzlich ausgestrahlt hat, analysiert die Lücken jener unheilvollen Nacht und macht die dunklen Seiten des Tourismus in der spanischen Stadt noch sichtbarer.
Der vergangene Sommer hinterließ uns weitere Bilder, die die Wasserlinie des Ansehens Benidorms torpedieren. Der englische Komiker Jimmy Carol erlitt einen Schädelbruch und musste in ein künstliches Koma versetzt werden, nachdem ihn ein paar betrunkene Landsleute angriffen hatten. Carol hatte offenbar ein paar Mädchen verteidigen wollen, die von der Gruppe belästigt wurden. Nur wenige Stunden zuvor wurde ein britischer Tourist, der in der „englischen Zone“unterwegs war, während eines Schusswechsels zwischen Drogendealern von einer verirrten Kugel getroffen.
Für Schlagzeilen sorgten auch die kleineren Ausschreitungen, die sich während der Fußballweltmeisterschaft ereigneten, als sich englische Touristen in Pubs und Hotels versammelten, um die Spiele ihrer Mannschaft zu verfolgen. Viel Rauch, wenig Feuer. Es handelte sich um harmlose Auseinandersetzungen, die von den spanischen Fernsehkanälen überdimensioniert dargestellt wurden, was wiederum von der Printpresse aufgegriffen wurde und einen unverhältnismäßigen Polizeieinsatz auslöste.
Die unzähligen Fotografen und Kameraleute, die an diesen Abenden voller Fußball und Alkohol
Benidorm ist Synonym für Geschmacklosigkeit, Pöbel- und Sauftourismus sowie sinn- und schamlose Partys
Aufnahmen machen sollten, hatten den Eindruck, sie seien auf die Jagd nach Bildern geschickt worden, die ein stark vereinfachtes, aber weit verbreitetes Vorurteil bestätigen sollten: dass die Briten, die in Benidorm Urlaub machen, eine dumme, alkoholisierte und außer Kontrolle geratene Masse sind. Das ging sogar so weit, dass einige sich an die Journalisten wandten und sagten: „Do you know? British people we’re not rubbish .... “(Wisst ihr was? Wir Briten sind kein Abfall).
Die Demütigung Tomeks
Für 100 Euro wurde auch der polnische Obdachlose und Alkoholiker Tomek zum Belustigungsobjekt einer Gruppe englischer Männer aus North Shields, die bei einem Junggesellenabschied in Benidorm durch die Kneipen zogen. Sie überredeten den Polen, sich einen Namen und eine Adresse auf die Stirn tätowieren zu lassen, was ein gerade zu unerträgliches Bild schuf: Er sah aus wie ein Sklave im Römischen Reich. Man beraubte Tomek seiner Würde und vergegenständlichte ihn.
Wenn es an der Costa Blanca eine Person gibt, die beide Kulturen – die spanische und britische – perfekt kennt und frei von nationalistischen Vorurteilen ist, dann ist es Karen Maling Cowles. Die 53jährige Britin lebt seit 28 Jahren in Spanien und ist Vorsitzende der Vereinigung britischer Händler in Benidorm. Für sie ist der Fall Tomek beispielhaft. „Es ist die typische Situation, bei der alle Seiten verlieren – Tomek, die jungen Männer und der Tätowierer haben alle ein unverantwortliches Verhalten gezeigt“, analysiert Maling.
Die Händlerin startete eine Geldsammelaktion, damit der junge Pole sich die Tätowierung entfernen lassen konnte. „Tomek stand da mit einer Tätowierung auf der Stirn, für 100 Euro, die er teils für Alkohol ausgab und die ihm teils geklaut wurden“, so Maling. „Der Tätowierer seinerseits hat im Gegenzug für die Einnahmen einen miserablen Ruf und negative Werbung kassiert, die jungen Engländer hatten wohl am nächsten Morgen einen Kater, weniger Geld und waren – so möchte man vermuten – beschämt. Alle von ihnen haben ihr Leben in einigen unüberlegten Minuten des Vergnügens, des Geschäftemachens beziehungsweise der Geldnot verschlechtert“, meint Karen Maling Cowles.
Sie glaubt, dass man über diese konkreten Fälle hinausgehen und sich fragen müsse, warum diese armseligen Vorfälle, die Benidorm und seine britischen Besucher auf negative Weise verbinden, mit solcher Leichtigkeit passieren, und die Umstände analysieren, die sie begünstigen.
Die touristische Debatte
Während die Medien beider Länder gefüllt sind mit Schlagzeilen über Schusswechsel, Drogen, Schlägereien, Unsicherheit, Diebstähle und Todesfälle in Benidorm, kochen die Landesregierung – über die Valencianische Tourismusagentur – und die Provinzverwaltung Alicante – über das Tourismuspatronat Costa Blanca – ihr eigenes Süppchen: triefende Werbekampagnen, in denen braungebrannte, weißgekleidete Pärchen in den Dreißigern mit einem Glas Wein und der Isla de Benidorm im Hintergrund am Strand entlangspazieren oder in einem Restaurant am Meer im Kerzenlicht zu Abend essen. Es klingt nach einem Traum, dem Ausdruck eines Wunsches der Regierenden: die Rückgewinnung des solventen skandinavischen und deutschen Tourismus der 1960er Jahre.
Die Hoteliers machen ebenfalls ihr eigenes Ding, und das ihrige heißt: „All inclusive“. Ein System, das bis zum letzten Euro alles im eigenen Haus lässt und dabei Restaurants, Läden, Bars und Pubs der Stadt schadet, die sich gezwungen sehen, die Preise zu senken, und zu anderen Lockangeboten wie Strippern und Livesex greifen, um ein Stück des Kuchens abzubekommen. Eine Kette mit Druck nach unten, die Kriminelle aller Art anzieht: Drogendealer, Zuhälter und Taschendiebe, die zwischen betrunkenen jungen Leuten und vertrauensseligen Senioren leichte Opfer finden. Karen Maling weiß, dass es ein großes Problem der Bürgersicherheit gibt und verteidigt die harte Arbeit von Orts- und Nationalpolizei, doch sie findet auch, dass mehr gemacht werden müsste, über eine Gesetzgebung, die eine durchschlagendere Botschaft sendet.
Auf der anderen Seite findet sich eine hitzige Tourismusdebatte im Internet. Viele Diskussionen drehen sich um die Frage, ob Benidorm ein „chavvy“-Urlaubsziel ist, oder nicht. Bezeichnungen wie „Spanish chavvy holidays resorts“, „chavstowns“, „trashy destinations“oder „lower class cities“überfluten Seiten in Zusammenhang mit Orten wie Teneriffa, Magaluf oder Benidorm. Es ist, als ob in die Sozialen Netzwerke der Geruch nach Urin und Erbrochenenem übergesprungen ist, der den Asphalt in der englischen Zone Benidorms imprägniert, und den kein Reinigungstrupp der Welt neutralisieren kann.
Es sind die Ausscheidungen der „Chavs“, jener jungen Leute, die die entindustrialisierten Gebiete des Vereinigten Königreichs bevölkern, die Markensportkleidung und -schmuck tragen und Experten darin sind, die Sozialhilfen ihres Landes bis aufs Letzte auszupressen. Das Wort „Chav“stammt aus der Gitano-Sprache und heißt „Jugendlicher“. Im Spanischen ging aus ihm das Wort „chaval“(Bursche/junger Mann/junges Mädchen) hervor.
Die Chavs und ihr Ursprung
Niemand hat die Chavs so gründlich untersucht wie Owen Jones. Der britische Forscher, Aktivist der politischen Linken und Kommentator bei „The Guardian“, „The Independent“und „Le Monde Diplomatique“hat dem Thema 2011 ein Buch gewidmet: „Chavs. The Demonization of the Working Class“(dt.: „Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse“) spürt den Ursprüngen dieser im heutigen Vereinigten Königreich so geschmähten Gesellschaftsklasse nach und filtert den Namen der Mutter und Schöpferin aller Britneys, Dwaynes, Chantelles, Dazzas und Chardonnays von Großbritannien heraus: Margaret Thatcher und ihre Wirtschaftspolitik.
Jones erläutert, wie die Machtübernahme der Eisernen Lady 1979 einen wohlbedachten und erbarmungslosen Angriff auf die Pfeiler der britischen „Working Class“bedeutete: auf ihre Gewerkschaften, ihre Sozialwohnungen, ihre Industrien und ihre Klassenwerte. Nach dem Tsunami Thatcher war nichts mehr wie vorher, und die ehemals stolze britische Arbeiterklasse – ihrer Macht und Selbstachtung beraubt – entwickelte sich zu einem Gemisch aus Gewalt, Faulenzerei, Schwangerschaften im Teenageralter, Rassismus und Alkoholismus.
Der Thatcherismus ersetzte die Arbeit für qualifizierte Fachkräfte in der Schwerindustrie durch schlechtbezahlte und ideologiefreie Jobs im Servicebereich, die