Mächtige Kirche
Heuchlerischer Umgang katholischer Kleriker mit sexuellem Missbrauch
Die katholische Kirche genießt in Spanien eine Sonderstellung mit weitreichenden Privilegien. Daran ist bislang nicht gerüttelt worden. Doch das Ansehen schwindet, die Gläubigen werden weniger. Der Feldzug des Papstes zwingt auch die Kirche in Spanien, gegen den sexuellen Missbrauch Minderjähriger vorzugehen. Eine Kommission der Bischofskonferenz soll helfen. Doch sie bleibt eine geschlossene Gesellschaft. Bekanntgewordene Missbrauchsfälle werden nach wie vor nur unzureichend aufgeklärt, die Opfer verunglimpft, die Täter freigesprochen. Die Rufe nach einer Rechtsreform und einer Abschaffung der Privilegien für katholische Kleriker mehren sich.
Clementine Kügler Madrid
Nach anfänglichem Zögern griff der Papst durch und entließ zwei des Missbrauchs überführte chilenische Bischöfe – der eine lebt in Deutschland – aus dem Klerikerstand. Das ist die höchste Strafe, die das Kirchenrecht vorsieht. Auch in Spanien steht die katholische Kirche wegen des Totschweigens von Missbrauchsfällen in der Kritik. Es gibt 70 Diözesen, 23.000 Pfarreien und 18.000 Priester. In den vergangenen 30 Jahren haben spanische Gerichte 33 Strafen wegen Missbrauchs von 80 Minderjährigen für Geistliche verhängt, deckt die Zeitung „El País“in einer Serie über kirchliche Missbrauchsfälle auf.
33 Verurteilungen sind wenig und könnten eine falsche Schlussfolgerung zulassen. Spanien ist keinesfalls eine Ausnahme. Die geringe Zahl bekanntgewordener Fälle zeigt ganz im Gegenteil, wie eng die Kirche zusammenhält, wenn es um die Verschleierung von Untaten geht. Und das ist, trotz des Kinderschutzgesetzes von 2015 und päpstlich verordneter Protokolle der Diözesen auch immer noch möglich.
Für Aufsehen hatte Ende 2014 der Brief eines jungen Mannes aus Granada an Papst Franziskus gesorgt, der von wiederholtem sexuellen Missbrauch durch mehrere Geistliche berichtete. Der Papst rief den jungen Spanier an und bat ihn im Namen der Kirche um Vergebung. Der Fall ging als Caso Romanones in die Justizgeschichte ein. Das Landgericht von Granada sprach den Hauptangeklagten, Pater Román, im April 2018 schließlich frei, weil dem vermeintlichen Opfer nicht geglaubt wurde. Das Opus-Dei-Mitglied sei für Machtkämpfe innerhalb der Kirche benutzt worden, konterten Kleriker.
Ein Brief des inzwischen erwachsenen Francisco Javier an den Papst hat jahrelangen Missbrauch am Jungeninternat Seminario Menor in La Bañeza, in der Provinz León, denunziert. Der 13-Jährige, sein Zwillingsbruder und zwei andere Jungen waren 26 Jahre zuvor Nacht für Nacht vom Priester José Manuel Ramos Gordón sexuell missbraucht worden. Die Hilferufe der Kinder wurden ignoriert. Der Klagebrief an den Papst führte zu einem Kirchenprozess, der nicht publik gemacht wurde. Der Bischof von Astorga verurteilte den Priester 2016 zu einem Jahr karitativer Aufgaben ohne Kontakt zu Kindern und ohne Priestertätigkeit, Rom hatte das Urteil ratifiziert. Der Vater meldete den Missbrauch
seiner beiden Söhne vier Jahre später mehreren Priestern und wurde zum Schweigen aufgefordert. Inzwischen ist der Fall eigentlich verjährt. Die Gemeinde Tábara durfte den Priester mit einer Hommage verabschieden. Das Opfer trat aus Empörung über die milde Strafe an die Öffentlichkeit. Daraufhin meldeten sich weitere Opfer. Schließlich ist Ramos zu zehn Jahren Verbannung in ein Kloster außerhalb Astorgas verurteilt worden. Er hat Beschwerde in Rom eingelegt. Die Forderung des Opfers Francisco Javier nach Entschädigungszahlung wurde als Erpressung hingestellt.
Ein anderer Fall geschah in Barcelona an der Maristen-Schule Sants-Les Corts. Zwölf der 13 pädophilen Lehrer sind auf freiem Fuß, weil die Taten verjährt sind. Dem geständigen Sportlehrer Joaquím Benítez wird wegen vier statt 17 Fällen der Prozess gemacht, auch hier greift die Verjährung. Wenn ein Opfer 18 Jahre alt wird und zehn Jahre vergehen lässt, ohne den Missbrauch anzuzeigen, gilt dieser als verjährt.
400 bis 500 Fälle werden in Rom pro Jahr angezeigt. Die Deutsche Bischofskonferenz hat für die vergangenen 70 Jahre 3.677 Fälle gemeldet. Wie viele Fälle aus Spanien kommen, wird nicht veröffentlicht. Kirchenprozesse werden nicht publik gemacht. Vom 21. bis 24. Februar 2019 hat Papst Franziskus die Vertreter der Bischofskonferenzen weltweit nach Rom einberufen, um auf höchster Ebene gegen Missbrauchsfälle und ihre Verschleierung vorzugehen.
Konkordat mit Rom
Anfang Oktober sprach die Präsidentin des Staatsrats und frühere stellvertretende Regierungschefin María Teresa Fernández de la Vega auf dem Kongress „Kirche und demokratische Gesellschaft“. Sie verlangt ein neues Gesetz über religiöse Freiheit, das die „Trennung von Staat und Kirche festlegt und das Verhältnis an die neuen Zeiten anpasst“.
Sie spielt an auf das Konkordat, das Diktator Francisco Franco 1953 mit dem Vatikan schloss und das für die Verfassung von 1978 reformiert wurde. Artikel 16 der Verfassung garantiert Religionsfreiheit und legt fest, dass es keine Staatsreligion gibt, schreibt aber auch vor, dass der Staat die Religion der Mehrheit achtet. Und das ist der Katholizismus.
Fünf Tage nach Inkrafttreten der Verfassung, wurde am 3. Januar 1979 das neue Konkordat unterzeichnet, das den eigentümlichen Status der katholischen Kirche in Spanien voller Privilegien bis heute festlegt. Der Staat bezahlt die Religionslehrer und Seelsorger an öffentlichen Krankenhäusern, die katholische Kirche wählt sie aus und stellt sie ein. Kein Richter und keine andere Autorität kann Geistliche zur Rechenschaft ziehen oder Informationen verlangen, wenn sie im Rahmen ihrer Tätigkeit Dinge erfahren, die sie nicht weitergeben wollen.
Die Verschleierung von Missbrauchsfällen wird denkbar leicht gemacht. Wer ein Gewissen hat, kann durchaus anzeigen, aber das tut kaum ein Würdenträger. Die Spanische Bischofskonferenz (CEE) hat 2010 ein Protokoll herausgegeben, das Ankläger „einlädt oder ihnen empfiehlt, bei Polizei, Staatsanwaltschaft oder Untersuchungsgericht Anzeige zu erstatten“. Sie folgte dem Aufruf von Papst Benediktus XVI. – notgedrungen, möchte man hinzufügen.
Seit 2015 schreibt das Gesetz zum Jugendschutz vor, dass jeder, der von einer möglichen Straftat gegen Minderjährige erfährt, verpflichtet ist, sie der Staatsanwaltschaft zu melden. Doch die Kirche zieht sich immer noch hinter ihr kanonisches Recht zurück.
Zwischen zwei und 15 Jahre Gefängnis drohen laut Strafgesetzbuch Tätern bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Das Kirchenrecht sieht die Absetzung des Geistlichen von seinem Amt, Versetzung in eine andere Diözese oder in ganz schweren Fällen – wie der Papst jetzt erstmals verordnete – Versetzung in den Laienstand vor. Solange Kirchen- und Zivilrecht so unterschiedliche Strafen vorsehen, wird die Kirche Missbrauch intern behandeln. So käme der Papst nicht weiter, schreibt „El País“in einem Leitartikel.
Tatsächlich hapert es an der Umsetzung. Seit 2010 haben nur zwei Diözesen, Ciudad Real und Castellón, 2010 und 2016, Missbrauchsfälle der Staatsanwaltschaft gemeldet. Nur drei besitzen spezielle Protokolle. Im Bistum Astorga gilt seit Januar 2018 ein Protokoll, dass der Bischof oder Priester Missbrauchsfälle, von denen sie erfahren, dem Jugendschutz und der Staatsanwaltschaft melden müssen. Informationen und Indizien sind weiterzugeben, es muss keine Gewissheit herrschen, dass tatsächlich Missbrauch vorliegt.
Die Bischofskonferenz hat eine vertrauliche Kommission aus sechs hohen Kirchenvertretern, Experten in Strafrecht, gebildet, die am 17. Oktober erstmals zusammenkam. Der Vorsitzende ist der Bischof Astorgas, Juan Antonio Menéndez. Astorga besitzt zwar ein vorbildliches Protokoll, der Bischof hat sich aber wegen der milden Bestrafung des überführten Päderasten Ramos Gordón diskreditiert.
Kirche bleibt unter sich
Keine Laien, Psychologen, Lehrer, Nonnen und kein einziges Missbrauchsopfer wurden in den Ausschuss berufen. Deshalb hagelte es sogleich Kritik von Francisco Javier und anderen Opfern. Die Kommission soll das Treffen in Rom im Februar vorbereiten, die verschiedenen Protokolle an das Kinderschutzgesetz von 2015 anpassen und Zivil- und Kirchenrecht vereinheitlichen.
Die verspätete Anpassung an das Kinderschutzgesetz betrifft nur Fälle, die missbrauchte Minderjährige oder deren Familien anzeigen. Wenn rückwirkend ein inzwischen erwachsenes Opfer Anzeige erstattet, bliebe wieder alles beim Alten, wenden kritische Staatsanwälte und Juristen ein.
Sie schlagen deshalb eine Rechtsreform vor. Sexueller Miss-
brauch gilt als halböffentliche Straftat, die nur das Opfer oder im Fall Minderjähriger ein Tutor anzeigen können. Würde es als öffentliche Straftat klassifiziert, wäre jeder, der Kenntnis erhält, verpflichtet anzuzeigen.
Der Kirchenrichter von Cartagena (Murcia), Gil José Sáez Martínez, schweigt nicht. Er gibt gegenüber „El País“zu, dass die Kirche seit Jahrzehnten unzählige Fälle von Päderastie verschweigt. Die Bischöfe berufen sich auf Kirchenrecht und Beichtgeheimnis, aber sie könnten durchaus die Zahl der Fälle öffentlich machen, ohne Namen zu nennen.
Er beschreibt das Prozedere: Wenn eine Anzeige vorliegt, beruft der Bischof einen Ermittler, der Informationen sammelt. Wenn er zu dem Schluss kommt, dass eine Straftat vorliegt, informiert er den Bischof und dieser Rom. Der Vatikan entscheidet, ob er ein außergerichtliches Verwaltungsverfahren oder einen Strafprozess eröffnet.
Normalerweise führt dann nicht Rom, sondern die Diözese den Prozess durch. Im Fall des Verwaltungsverfahrens wiederholt eine Abordnung alle Verhöre und schreibt einen Bericht, in dem begründet wird, ob eine Straftat vorliegt oder nicht. Im Strafgerichtsverfahren führt ein Gericht den Prozess durch und spricht ein Urteil. In beiden Fällen wird der Beschluss zur Ratifizierung nach Rom geschickt.
Die Scham ist groß
Die Gerichte können nur dann Prozesse führen, wenn die Missbrauchsopfer sich an sie wenden. Das taten einige, als sie sahen, dass die Kirche selbst nichts unternahm, wenn sie Übergriffe meldeten. Aber sie haben es nicht leicht, denn die Kirche hält zusammen, den Opfern wird nicht selten Erpressung oder Intrige vorgeworfen.
Außerdem sei die Scham groß, stellt die ehemalige Leiterin des Zentrums für den Schutz Minderjähriger im Vatikan, Karlijn Demasure, fest. In der Zeitung „ABC“antwortet sie auf die Frage, ob die wenigen Verurteilungen in Spanien auf wenige Fälle hindeuten: „Nein, das wäre naiv. Sie sind noch nicht bekannt geworden. Missbrauch gehört zur menschlichen Natur und passiert überall. In der Kirche und ganz allgemein in der spanischen Kultur herrscht große Scham, die Opfer haben Angst, gebrandmarkt zu werden.“
Der Priester Amador Romero, der 2001 wegen fortgesetzten Missbrauchs eines Messdieners in den Jahren 1995 bis 1997 in dem 640-Seelen-Dorf Aldeire (Granada) von der Strafkammer des Amtsgerichts Granada zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurde, ist heute Kaplan im Hospital General in Alicante. Das Bistum Orihuela-Alicante stellte am 19. Oktober klar, dass Romero nicht in Granada arbeiten darf, in anderen Diözesen aber sehr wohl, weder das Kirchenrecht noch das zivile Recht verböten das. Das valencianische Gesundheitsministerium, das den ehemaligen Kinderschänder zahlt, weist darauf hin, dass laut Konkordat die Kirche die geistliche Betreuung in öffentlichen Krankenhäusern organisiert.
Dieser Fall zeigt, wie gut der Schutz funktioniert. Der Bischof von Guadix wollte Romero nach der Verurteilung nur ein paar Dörfer weiter weg versetzen. Er war nie im Gefängnis. Besonders perfide war die Argumentation des Angeklagten. Der Junge habe zwei Jahre lang geschwiegen und ihn nur aus Rache angezeigt, weil er sich mehr Protagonismus als Messdiener erwartet hatte. Keine Spur eines Schuldgefühls. Eine Untersuchung durch die Kirche sprach Romero frei. 2017 wurde er bei einem Festakt der Diözese Guadix sogar geehrt.
Der Pfarrer der Gemeinde L’Alfàs del Pi (Alicante), Miguel Ángel Schiller, hatte Anfang 2018 für Schlagzeilen gesorgt, weil er in unpassendem Ton, wie er später selbst zugeben musste, die Vertreter der katholischen Kirche als „Schwule, geistig Kranke und Gestörte“beschimpfte. Er schämte sich angesichts der Missbrauchsfälle und wollte „aussteigen aus diesem Korruptionsgeschäft Kirche“, schrieb er auf Facebook. Er schlug vor, Priester, die mit Kindern arbeiten, regelmäßig psychiatrisch untersuchen zu lassen. Es sei kein Wunder, dass niemand mehr an die Kirche glaube. Von seinen Beschimpfungen nahm er nur den Bischof von Orihuela-Alicante, Jesús Murgui Soriano, aus. Ausgerechnet der hat aber Amador Romero zum Kaplan im Hospital General in Alicante ernannt.
Als „eine der korruptesten und gefährlichsten Institutionen der Welt, wenn es um Kinder und ihre Sicherheit geht“, bezeichnet auch der britische Pianist und Aktivist gegen sexuellen Kindesmissbrauch James Rhodes die katholische Kirche. Der Musiker lebt seit 2017 in Madrid.
Anfang August traf er sich mit Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez, um das Gesetz zum Kinderschutz zu verbessern. Anfang Oktober hielt er seinem Gastland in „El País“einen bitteren Vortrag. Es ginge nichts voran, obwohl Spanien das erste Land der Welt sein könnte, das Minderjährige umfassend vor Missbrauch schützt. Schuldig seien alle, auch die Medien. Der Dokumentarfilm „Shootball“von Félix Colomer über den Maristas-Fall würde von keinem TV-Sender ausgestrahlt, aus Angst, es sich mit der mächtigen Kirche zu verscherzen, schrieb Rhodes.
Verjährung abschaffen
Verbände von Staatsanwälten und Richtern plädieren dafür, die Verjährung bei Missbrauchsfällen abzuschaffen oder die Frist zu verlängern. Missbrauch müsste als öffentliche Straftat eingestuft werden, dann müsste auch die Kirche die Fälle anzeigen.
Unidos Podemos hat im Parlament die stellvertretende Ministerpräsidentin Carmen Calvo aufgefordert, zu erklären, ob die Regierung das Konkordat von 1979 aufheben werde. Im Mai, als noch Mariano Rajoy regierte, hatte der sozialistische Sekretär für Laizismus, José Manuel Rodríguez Uribes, angekündigt, wenn die PSOE regieren sollte, würde sie das Ausmaß der Abkommen mit dem Vatikan denunzieren, weil sie mit der Verfassung nicht vereinbar seien. Die Sozialisten sind bereit, eine Art Wahrheitskommission mit der Kirche zu bilden, um die Fälle aufzuklären. Ciudadanos will ebenfalls volle Aufklärung und keine Privilegien für die Kirche. Das Gesetz müsse auch für die Kirche gelten. Die PP hat sich nicht geäußert.
Die Regierung solidarisiere sich mit den Missbrauchsopfern und wolle, dass die Justiz die Fälle aufklärt, beteuerte Sánchez’ Regierungssprecherin Isabel Celaá bei einer Pressekonferenz am 19. Oktober. Zehn Tage später, am 29. Oktober hat die stellvertretende Ministerpräsidentin Carmen Calvo sich mit dem Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin im Vatikan getroffen. Zu den Themen, die „in einem herzlichen Klima“besprochen wurden, gehörten die Eintragungen der Besitztümer der Kirche im Grundbuch und die Umbettung des Diktators Franco. Ob das Konkordat infrage gestellt wurde, wurde nicht bekannt. Doch Calvo unterrichtete Parolin von der Absicht der Regierung, das Strafgesetz zu reformieren, damit Missbrauchsdelikte künftig nicht verjähren.
Kirche hält zusammen, den Opfern wird nicht selten Erpressung oder Intrige vorgeworfen