Zurück zu den Lebenden
Oscar-Sieger „Coco“– Vom Mut, die Wahrheit zu suchen und Versöhnung zu finden
Welche Familie hat sie nicht: düstere Kapitel der Vergangenheit, für die Pech, Schuld oder Fehler gewisser Personen sorgten und die zu Tabus wurden. Zu Themen, über die man nicht spricht, die aber jedem ein festes Schema vorgeben – darüber, was gut, was schlecht, was sicher und was gefährlich ist. Kennen Sie nicht? Der zwölfjährige Miguel aus Santa Cecilia in Mexiko kennt das zu gut.
Der Junge träumt davon, Musiker zu werden – so wie Ernesto de la Cruz, der große Star des Dorfes. Doch in Miguels Schusterfamilie kommt das nicht in Frage. Musik ist nämlich strengstens verboten. Der Grund: Miguels Ur-Ur-Oma wurde von einem Gitarristen fallengelassen. Als Coco, die Tochter des Paares, drei Jahre alt war, zog er für immer fort.
Nur einer darf nicht mit
In einer Sequenz voller mexikanischen Elans erzählt der Vorspann die Story von „Coco“– Disneys und Pixars Zeichentricksensation. Von den „Toy Story“-Machern erdacht und produziert, begann der Film am 20. Oktober 2017, auf dem Morelia Festival in Mexiko, den Siegeszug. „Coco“erhielt Preis um Preis, bis im März 2018 der doppelte „Oscar“folgte – je einer für den besten Cartoon und den besten Filmsong.
„Remember me“ist dabei nur eines der zahlreichen Lieder, die dem Film einen unnachahmlich mexikanischen Anstrich geben. Für die passende Optik sorgen die Traditionen des „Día de los muertos“zu Allerheiligen und Allerseelen: starke Farben, Blumen und vor allem viele bunte Totenköpfe. Farbgewaltiger Gute-Laune-Film für die ganze Familie: „Coco“.
Am „Día de los muertos“be- ginnt auch die Geschichte: Gemäß der Tradition werden die Vorfahren auf einem Altar mit Fotos, Blumen und Kerzen geehrt. Nur einer darf nicht mit drauf – Miguels verräterischer Ur-Ur-Großvater.
Was den Jungen vor allem eines macht: neugierig. Durch eine Unachtsamkeit beim Nachforschen richtet er herben Schaden an, stellt aber auch fest, dass der Vorfahr auf dem Foto die Gitarre des großen Ernesto de la Cruz in seinen Händen hält.
Miguel wusste es ja immer. Jede Sekunde der Musical-Filme mit de la Cruz kennt er auswendig, lernte so auch auf der Luftgitarre alle Akkorde. Den Starmusiker hatte er also immer schon im Blut, glaubt er. Allerdings nur er.
Denn für die Behauptung, der Nachfahr des Stars zu sein, schlägt
ihm der Zorn der Familie entge- gen. Trotzig macht sich Miguel abends zu de la Cruz’ Grab auf, in dem sich die Gitarre befindet. Er zupft die Seiten – und unfassbares passiert. Denn plötzlich sieht die Welt um Miguel ganz anders aus: Seltsame Figuren sieht er, aus Knochen und Totenköpfen. Über eine große Brücke strömen sie aus einer Stadt am Ende des Horizonts. Für Miguel beginnt die Reise, auf der er – ausgerechnet im Totenreich – das Abenteuer seines Lebens erlebt.
Jahrelang hatte Lee Unkrich an der Geschichte herumgekaut, und setzte sie schließlich mit Hilfe des Teams von Adrian Molina auf beeindruckende, da so leichte, Weise um. Um den Geist Mexikos darzustellen, besuchte das Produktionsteam mehrmals das Land, das wohl in der Ära Trump besonders schlecht dasteht.
So ist der Film einer, der gerade den Kleinen und Unterschätzten den Vortritt lässt. Allen voran Miguel, der Rebell, der im frommen Umfeld gegen die Moral zu verstoßen scheint. Auch andere Randfiguren werden zu Protagonisten: Héctor, der trottelige Gauner, der Miguel bei der Suche im Totenreich hilft – und vor allem die alzheimerkranke Ur-Großmutter Coco, die dem Film ja den Titel gibt.
Der Mut, die Wahrheit zu suchen, hinter falschen Fassaden, die sich nur auf Kosten anderer erhalten, ist ein Motiv des Films, das ihn gerade für Menschen, die sich benachteiligt fühlen, so kostbar macht. Genial umgesetzt ist das Reich der Toten mit seinen Regeln und Gesetzen, das an Marty McFlys Reisen „Zurück in die Zukunft“denken lässt.
Lebens- und Sterbensfreude
So betritt die Brücke zu den Lebenden nur der, dessen Verwandte ein Foto am Tag der Verstorbenen aufstellen. Wenn niemand mehr an den Toten denkt, verschwindet dieser endgültig. Offenbar wird das in einer bewegenden Szene.
Nein, das Düstere und Schreckliche des Sterbens nimmt der Streifen, den Kinder wie Erwachsene anschauen können, nicht aus. Statt aber Trost in religiöser Dogmatik zu suchen, findet er Glück und Befreiung in hispanischer Lebensund Sterbensfreude.
Wie verwandt die Traditionen dies- und jenseits des Atlantiks sind, hat man an Allerheiligen und Allerseelen gesehen, wo Süßes auch an der Costa del Sol genauso typisch ist wie die Bonbons der mexikanischen „Muertos“. Man sieht es auch am 22. November, dem Tag der Santa Cecilia, die Miguels Musikantendorf den Namen gibt, und hierzulande ganze Dörfer und Städte zum Musizieren bringt.