Fettes Adoptivkind
Weder russisch, noch Salat: Wie die Ensaladilla rusa nach Spanien kam
mar. Eher geht einer spanischen Bar das Bier aus als die Ensaladilla rusa. Kaum ein Lokal, in dem der Gemüse-Mayonnaise-Mix nicht in der Vitrine steht. Mit gekochtem Ei bekrümelt, wird er beim Servieren gern auf harte Rosquilla-Brezeln gepappt, die gleichermaßen als Gabel, Teller oder Schraubenschlüssel fungieren können.
Die Ensaladilla ist die stabile Basis für den Trinker, die Notration für den Eiligen, der kleinste gemeinsame Nenner jeder TapasRunde, der Kitt der Bars und EckKneipen. In nicht wenigen Fällen könnte das „Salätchen“gut auch als Baumaterial verwendet werden, er wird ja häufig bereits in zementeimergroßen Behältnissen angeliefert und erhält vom Wirt durch Dosenthunfisch noch den traditionellen Hauch „Katzenfutter“.
Doch genauso gut kann man in der unwirtlichsten Häuserschlucht Benidorms, in einem heruntergekommenen Loch eine kulinarische Offenbarung selben Namens serviert bekommen. Spanien eben. So geschah es dem Autor als er einst auf seine NIE wartete, inklusive ungefragten Nachschlags von der kochenden Omi. Seitdem wird immer mal wieder probiert, es steht 80:20 für die Enttäuschungen.
Doch warum heißt der Salat „rusa“? Denn er ist eigentlich nicht wirklich russisch und auch kaum ein Salat. Das Urrezept, sagt die Überlieferung, stammt aus den 1860er Jahren. Der junge belgische Koch Lucien Olivier brachte seine französischen Wurzeln mit nach Moskau, das damals nur zweite Wahl im Zarenreich war, denn die Hauptstadt war Sankt Petersburg. Französisch war en vouge in der Oberschicht und ein Restaurantbesuch schon ein frivoles Extra – bis 1861 gab es in Russland die Leibeigenschaft. Es ist klar, dass die feinen Herren und Damen sich bei ihren mit blutigen Rubeln finanzierten Gelagen nicht mit einem Gemisch aus Kartoffeln, Erbsen und Mayonnaise abspeisen lassen wollten. Erst recht nicht von einem 22-jährigen Herrn Olivier, der sie in seinem Restaurant Hermitage bewirten wollte.
Er musste groß auftafeln, um sein Publikum zu überzeugen und zu halten und feierte damit große Erfolge. Dichter und Komponisten wie Puschkin, Dostojewski und Tschajkowski verkehrten bald in seinem Hause und vermehrten seinen Ruf, bis natürlich die gesamte Hofcamarilla hier aufkreuzte.
Das feine Haus, in dem sich damals die Gästezimmer und das Restaurant Hermitage befanden, gibt es heute noch. Wer mal nach Moskau kommt, findet es am Petrovsker Boulevard am TrubnayaPlatz. War es einst dem Geldadel vorbehalten, hausen hier heute die Geld-Proleten. Die Dekadenz der Räuber von damals wie heute blieb die gleiche, nur der letzte Rest von Stil ging endgültig verloren.
Rezept ins Grab genommen
Was Maître Olivier damals genau servierte, ist nicht bekannt, er nahm das Rezept für seinen Salade russe, den er zunächst Jagdsalat nannte, und vor allem dessen legendäre Sauce 1883 mit ins Grab. Da war er erst 45 Jahre alt.
Sein Lehrling, der natürlich Ivan Ivanov geheißen haben soll, hätte ihm das Rezept mit vorgehaltener Pistole abgefordert, um den Salat unter dem Namen „Stolichny“, hauptstädtisch, bei der Konkurrenz zu vermarkten. Doch dieser soll nie an Oliviers Kreation herangereicht haben.
Legenden erzählen von Bärentatzenfleisch und anderen Kuriositäten und davon, dass Olivier gar keine Mayonnaise unterrührte, sondern eine raffinierte BernaiseAbwandlung mit Estragon und einem Schuss Mittelasien, die er Sauce Provençal nannte. Verbürgt sind Kartoffeln, Erbsen, Karotten lediglich als Farbtupfer. Krabben und Flusskrebse, Hummer, gar Kaviar und feine Wildgeflügel sollen den Salat ausgemacht haben. In der französischen Gastronomie der alten Schule firmierte unter Mayonnaise ohnehin nicht das heute bekannte Bindemittel, sondern der Begriff stand für gemischte, lauwarme Vorspeisen aus Fleisch und Gemüse mit raffinierten Saucen. Die russischen Gäste nannten dessen Kreation „Oliviers Salat“, die russischen Hausfrauen adoptierten den Оливье alsbald und jede hat bis heute ihr einzig wahres Rezept.
In keinem einzigen davon kommen Thunfisch, dafür wohl aber Fleisch- oder Wurstwürfel vor. Die Russen nehmen zwar viel weniger Mayonnaise als bei der heutigen spanischen Standard-Fabrik-Ensaladilla verwendet wird. Doch so manche Babuschkas rühren dafür die Smetana unter, gegen die eine Creme double wie ein fettfreier Joghurt wirkt.
Eine Spurensicherung
In hellen Haufen floh der Adel vor Lenins Revolution in alle Welt. „Seinen“Salat nahm er mit. Auch das Hermitage musste natürlich 1917 schließen. Zunächst verschlug es die Blaublüter vor allem nach Paris und London, wo man auch heute einen Russian Salad kennt. Der stammte allerdings von einem Italiener und ist schon seit 1845 in der Hofküche Königin Viktorias schriftlich belegt. Eine Variante mit Kartoffeln, Erbsen, Roter Beete und Spargel mit raffiniertem Sößchen existiert sogar in den Aufzeichnungen von Antonin Carême, dem „Koch der Könige und König der Köche“aus dem 18. Jahrhundert.
Es bräuchte also das halbe FBI, um zu ermitteln, von wo welche Variante letztlich nach Spanien schwappte, das sich immerhin exklusiv ankreiden lassen darf, den Dosen-Thunfisch darin etabliert zu haben. In Polen lässt man nicht nur den, sondern auch die Karotten weg, dafür fügt man Dill hinzu.
Über die Jahrzehnte wurde der Olivier sozusagen popularisiert, als Schnösel könnte man auch verstümmelt und vulgarisiert sagen, freundlicher: auf des Volkes Kaufkraft und Geschmack bis zur Unkenntlichkeit eingekocht – in Russland genauso wie in Spanien oder in Britannien.
In Francos Spanien gefiel der Name „ruso“den Offiziellen nicht. Man fürchtete, dass der Kommunismus sich so über die Mägen Zugang zum Gemüt der Leute verschaffen könnte. Denn es war ja eigentlich auch Schuld der „Kommunisten“, dass der Salat als fettes Adoptivkind ins Exil gehen musste. Ensalada nacional sollte der Eindringling umgetauft werden, wies man die Restaurants an.
Der Gast schüttelte den Kopf und umschiffte diese totalitäre Absurdität. Die Spanier verniedlichten den Nationalsalat spitzbübisch zur Ensaladilla. Dabei blieb es. Von den aktuellen Rezepten der spanischen Olivier-Nachkommen hat sich die Murcianer Variante weitgehend durchgesetzt: Cremig gekochte Kartoffeln, Erbsen, Karotten, gekochtes Ei, Thunfisch und Mayonnaise sind die Standard-Zutaten. Oliven, saure Gürkchen (pepinillo), eingelegter Blumenkohl oder Dosenspargel sind mögliche Varianten oder Zusätze. In Cádiz fügt man Fleisch aus Krabbenbeinen hinzu, leider auch fast immer aus der Dose.
Beim vorletzten Grillfest gelang uns ein Versuch mit frisch gekochten Grundzutaten, nämlich grünem Wildspargel al dente, selbstgemachter, „leichter“Mayonnaise und kurzgebratenem Thunfisch a la plancha in Würfel geschnitten sehr gut – als lauwarme Beilage sowie am Morgen danach als eines Zaren würdigen Katerfrühstück.