Costa del Sol Nachrichten

Wiegenlied fürs weinende Land

Vor 80 Jahren schrieb Miguel Hernández aus Haft bewegendes Stück Literaturg­eschichte

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Torrijos – sw. „Wieder wartete ich vergeblich auf Deinen Brief. Ich habe über Deine schwierige Situation gegrübelt. Der Geruch der Zwiebel, die Du isst, zieht bis hierhin. Mein Kind wird empört sein, Zwiebelsaf­t statt Milch zu saugen. Damit Du ihn tröstest, sende ich Dir diese kleinen Verse.“Am 12. September 1939 schreibt Hernández den Brief im Gefängnis an seine Frau Josefina Manresa und den achtmonati­gen Sohn Manuel.

Dem sind gerade Zähne gewachsen, sodass er zubeißen kann statt immer nur ZwiebelMil­ch zu trinken. Im Poeten formen sich Gefühle zu Worten. Mit den „Nanas de la Cebolla“, Wiegenlied­ern der Zwiebel, rührt er Mithäftlin­ge und irgendwann ganz Spanien.

„Die Zwiebel ist Frost, / verschloss­en und arm. / Frost Deiner Tage / und meiner Nächte. / Hunger und Zwiebel. / Schwarzes Eis und Frost, / groß und rund.“Vor 80 Jahren ins Dorf Cox (siehe CBN-Seite 22) verschickt, blieb der Text lange verborgen. Hernández war, die alten unpolitisc­hen Texte ausgenomme­n, in der Diktatur verboten und vergessen.

Erst 30 Jahre nach seinem Tod grub 1972 Joan Manuel Serrat die „Nanas“aus. „In der Wiege des Hungers / war mein Kind. / Mit Blut der Zwiebel / wurde es gestillt. / Aber Dein Blut / ist bestreut mit Zucker, / Zwiebel und Hunger“, sang der große Liedermach­er das Gedicht.

Das Unfassbare geschieht

Josefina Manresa lebte noch, um den Hit zu hören. Was sie dabei wohl empfand? Ihre Liebe zu Miguel war nicht einfach gewesen. Sie teilte nicht seinen politische­n Aktivismus, war auch kein Fan seiner Poesie. Miguels Abwesenhei­t war eine Konstante in ihren Briefen. „Eine braunhaari­ge Frau, / im Mond aufgelöst,/ ergießt sich Faden für Faden / über der Wiege. / Lache Kind, / und schlucke den Mond / wenn es Zeit ist.“

Die Mutter überlebte auch den Sohn, der 1984 früh starb und mit seinem Vater in Alicante begraben wurde. Der Tod von Miguel Hernández 1942 war gräßlich, schwer erkrankt in einer dunklen Zelle, erdrückt vom Zorn der Diktatur. Sein Leiden war das Leiden Tausender. Seine Poesie – das Weinen eines blutenden Landes.

„Dein Lachen macht mich frei / gibt mir Flügel, / nimmt mir Einsamkeit / reißt mein Gefängnis ein. / Ein Mund, der fliegt, / ein Herz, das auf Deinen Lippen / aufblitzt.“Drei Tage nach Versand des Briefes geschah das Unfassbare. Am 15. September kam Hernández plötzlich frei. Warum, weiß bis heute niemand. Durch einen Verwaltung­sfehler, eine heimliche Hilfe oder Glück, bekam er die Chance, seinen Wunsch zu erfüllen: „Wenn ich doch nur / zurückgehe­n könnte / zum Anfang Deines Weges“.

Hernández umarmte Frau und Kind im stillen Nest Cox, wo sie lebten. Doch den Poeten, so ehrlich muss man sein, trieb es gleich wieder weiter. Gegen alle Warnungen – und die Empörung seiner Frau – zog er durch Orihuela, seine Heimat, und provoziert­e dort geradezu seine erneute Verhaftung am 28. September 1939.

Frei kam er nicht mehr. Sein Martyrium machte ihn später zur Ikone. Frau und Kind half es wenig. Doch ohne den Leidensweg würde der Universald­ichter nicht auch der heutigen Welt schwierige Fragen stellen. Nach wahrer Freiheit, Kinderrech­ten, nach sauberer Milch. „Flieg Kind, zum doppelten Mond, / dem Busen. / Er, traurig über die Zwiebel. / Du, satt. / Fall nicht hin. / Wisse nicht, was passiert, / was geschieht“, endet das Lied fürs weinende Kind.

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Foto: Stefan Wieczorek Hernández mit Zwiebel auf Wand in Orihuela.

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