Keine Zeit für Tränen
Unwetter bringt alte Mängel und vergessene Charakteristiken der Vega Baja zutage – Noch kein Katastrophenstatus
Dolores – sw. Wohl immer noch eine Katastrophe, aber auch eine qualvolle Erleichterung war für die Familie des Holländers am Dienstag die Nachricht, dass man seinen Körper gefunden hatte. Die Nachricht hätte lange auf sich warten lassen können: Am Fundort bei Guardamar war der Leichnam des 66-Jährigen, der am Sonntag in Dolores in einen Kanal fiel, nicht mehr weit vom Meer entfernt.
In der gebeutelten Vega Baja war der Nordeuropäer das dritte Todesopfer des großen Unwetters. Im braunen Meer, in dem sich Dolores plötzlich wiederfand, hatte er die Gefahr des Kanals zu spät erkannt. Ein dichtes Netz aus Acequias und Azarbes durchzieht die Gegend. Erfunden hatten das Bewässerungssystem die Mauren, ausgebaut die Christen.
Im 18. Jahrhundert sorgte das Netz dafür, dass Dolores überhaupt entstand. Kardinal Belluga ließ das Gebiet mit dem System für Besiedlung und Landwirtschaft trocknen. Dolores war zuvor ein Sumpf, und vor 2.000 Jahren sogar noch der Meeresgrund. Als am Samstag der Fluss im Herzen der Vega Baja über die Ufer trat, bahnte sich die Flut den Weg in den Urzustand, wie ein von Instinkten getriebenes Tier, wie ein Stier, losgelassen aufs rote Tuch.
20 Minuten fährt man aus Dolores nach Guardamar. Normalerweise. Am Samstag brauchte Pepa Ruiz dafür einen Tag. Die 63-Jährige hatte gepackt und ihr Haus verlassen. „Dort wurde ich geboren“, zeigt sie ein Fenster im ersten Stock. Am Dienstag schaut sie sich in Dolores erstmals die Schäden an, nachdem sie bei ihrer Familie in Guardamar untergekommen war.
Der Boden im Haus ist vom Wasser befreit, die Straße erinnert aber noch an ein fatales Venedig. „Ofen und Kühlschrank sind kaputt“, sagt sie auf dem Weg zum See im Hof. „Kacheln fallen von den Wänden, weil die Feuchtigkeit aufsteigt.“Im Haus müsse „ziemlich alles“repariert werden. Versichert sei sie, ja. „Mein Sohn macht jetzt Fotos. Aber alle Belege lagen im Erdgeschoss und schwimmen jetzt irgendwo auf der Straße.“
Allein ohne Strom und Telefon
„Ich fühle mich ohnmächtig“, sagt Ruiz. Ihr Gesicht macht Anstalten zu weinen, Tränen kommen nicht. Nie zuvor hätte sie ihr Haus verlassen müssen. „Meine Eltern mussten mal wegen Hochwassers Schutz suchen. Ich war da noch nicht geboren.“Offenbar meint sie die Flut im Oktober 1949. Beim letzten solchen Unglück in der Vega 1987 blieb Ruiz’ Haus trocken.
Da erklärte Spanien die Zone zum Katastrophengebiet. Diese Erklärung lässt – während die Vega Baja sich langsam sammelt – auf sich warten, obgleich hohe Landesund Staatspolitiker beteuerten, sich darum zu bemühen. Die Menschen mit ihren kleinen und großen Katastrophen sind aber nicht allein. „Stadt und Einsatzkräfte unterstützen uns super“, sagt Ruiz.
Dasselbe hören wir von vielen anderen Bürgern. Hilfe ist auch nötig. „Meine Mutter sitzt allein in Dolores mit ihren Hunden fest, ohne Strom und Telefon“, schreibt am Dienstag Heike Leyendecker aus Köln. Almoradí meldet ähnliche Zustände. Tausende mussten in der Not ihre Häuser verlassen.
Die meisten kamen wie Pepa Ruiz bei Bekannten unter. Noch am Montag schliefen über 200 in öffentlichen Notherbergen in Almoradí, Catral und Crevillent und rund 100 im Priesterseminar auf dem Berg von Orihuela. In der stolzen Hauptstadt des Landkreises hatte die Katastrophe, die offiziell noch keine ist, begonnen.
Über 500 Liter fielen an zwei Tagen pro Quadratmeter. Zuviel für die Stadt am Berg und Fluss. Bevor letzterer sein Bett verließ, ließ ersterer spektakuläre Wasserfälle weinen, und das Tal vor Redován mit dem
Bild aus in den Fluten aufgetürmten Autos für internationale Schlagzeilen sorgen. Von dort kämpfte sich CBN-Fotograf Ángel García am Freitag in die geflutete Innenstadt, in der schon am Donnerstag nichts mehr ging.
Auch das Hospital Vega Baja im Vorort San Bartolomé – ähnlich tief gelegen wie Dolores – stand schon am ersten Tag unter Wasser. Viral gingen hier Videos von WCs, die zu Springbrunnen wurden.
Dass deshalb zwei neue OP-Säle unbrauchbar wurden, der CTScanner wegen Todesgefahr ausgemacht werden und die Notaufnahme arg improvisieren musste, offenbarten die Videos mit dem Wow-Effekt nicht. Traumatologe David Coves: „Ich hatte Glück, am Donnerstagabend heimgekommen zu sein.“Am Freitag musste er gar nicht zum Dienst, verzichtete aber – wie viele Kollegen – auf den freien Tag. „Orihuela Stadt war abgeschnitten, und nur die aus der anderen Richtung konnten kommen.“
Am Abend sprangen Militär und Forstschutzbrigade mit 4x4Lkw und Helikoptern als Taxis und Krankenwagen ein, dafür sorgend, dass Kinder geboren und sterbende Menschen gerettet werden konnten. Beim kollektiven Wischen, Ordnen, Reparieren weiß die Vega, dass ohne die vielen Not-OP: Guardamar baggert Flussufer aus. amtlichen und freiwilligen Helfer die Not viel größer gewesen wäre. Tödliche Unfälle hätten hundertfach passieren können.
Hundertprozentige Ausfälle
„Im hüfthohen Wasser fiel ich plötzlich in ein Loch und stand bis zum Hals im Wasser“, so Fotograf García, ein mit schwierigem Gelände erfahrener Mann. Doch der Kreis ist voller älterer, behinderter und kleiner Vegabajeros, die in den Gewittertagen auf die Straße gingen. Das mussten sie aus der Not heraus – oft taten sie es aber auch aus fehlender Vorsicht, wie uns die Guardia Civil an der Stelle mitteilt, wo der tote Holländer geborgen wurde.
Dass dort an der Küste die Lage – mit einer überschwemmten N-332 – brenzlig werden würde, hatte man nicht erwartet. Erst eine Notoperation der Stadt Guardamar, die zwei Kanäle vom Flutgebiet in den Fluss buddelte, zog der Badewanne am Dienstag den Stöpsel und machte dem Spuk, so hofft man, ein Ende.
Die Zahl von zunächst 150.000 als zerstört gemeldeten Hektar Land muss wohl nach oben korrigiert werden. Hundertprozentige Ernteausfälle für Kürbisse und Artischocken beklagt der Bauernverein Asaja. Mit „nur“drei Toten scheint der mit 27 Gemeinden und 277.000 Bewohnern dichtbesiedelte Kreis aber gut davongekommen zu sein. Also keine Katastrophe? Das werden Politiker und Juristen entscheiden.
Doch selbst wenn sie die Katastrophe anerkennen, wird das die Familien von Raúl und Miguel, die am Dienstag – noch als man den Holländer suchte – in Orihuela bestattet wurden, nicht trösten. Beide starben im tödlichen Strom. Der 40-jährige Tätowierer, weil er seine Hunde, der 58-Jährige LkwFahrer, weil er seine Granatäpfel retten wollte. „Wir haben unsere kleinen emotionalen Krisen, aber keine Zeit zum Weinen“, spricht Verónica Sanz aus Dolores irgendwie für den ganzen Kreis.
Auch Carmelo Soriano ist gefasst, während er seiner Mutter Pepa Ruiz beim Aufräumen hilft und für sie mit den Rettungskräften spricht. „Wir wohnten hier in einem potentiellen Staudamm, da passiert eben sowas“, sagt der 32Jährige. Auf seinem T-Shirt, ein weiteres Motto der Vega Baja in diesen Tagen: „Yesterday Today Tomorrow“. Nur „Heute“ist nicht durchgestrichen. Nur Heute zählt.