Mord in der Bibliothek
Auszug aus dem Krimi von Cia Born „Das schwarze Kreuz von Benissa“
Liz saß mit einem kühlen Glas Weißwein auf ihrem Balkon und genoss die Ruhe vor dem Sturm. Auf der hölzernen Bank unter den ausladenden Ästen der Steineiche hatten zwei ältere Herren Platz genommen und diskutierten äußerst motiviert und lebhaft die allgegenwärtige Korruption der führenden Politiker und die herausragende Qualität des diesjährigen Moscatelweins.
In diesem Augenblick kam Penélope de las Villas, Benissas allwissende Bibliothekarin, auf ihrem Fahrrad um die Ecke gebraust. Doña Penélope beeindruckte ihre Mitmenschen nicht nur durch den unerschöpflichen Fundus ihres breitgestreuten Wissens, sondern auch durch ihr voluminöses Erscheinungsbild. Jeder der sie erblickte, empfand sofort ein wenig Mitleid mit ihrem drahtigen Gefährt, das fast zur Gänze unter ihrer Korpulenz verschwand.
Die runden, strammen Waden, die unter dem Saum eines kolossalen Faltenrocks hervorlugten, traten eifrig in sehr zierlich wirkende Pedale. Rhythmisch ächzten die Federn des Fahrradsattels unter dem Gewicht der Bibliothekarin. Da sie vorsichtshalber unverhoffte Zusammenstöße vermeiden wollte, betätigte sie ausdauernd und leidenschaftlich die kleine Fahrradklingel.
Vor dem Centro Cultural vollführte sie eine geschickte Wendung, glitt überraschend flink vom Fahrrad herunter und lehnte das Gefährt vorsichtig gegen die ehrwürdige, historische Steinmauer. Was wollte sie heute und um diese Uhrzeit in der Bibliothek? Dienstag war Ruhetag!
Aber Liz kannte Doña Penélope recht gut und wusste, dass Pflichterfüllung für sie stets an oberster Stelle stand. Vermutlich hatte sie nur vergessen, eine Schublade abzuschließen und wollte dies nun umgehend nachholen. Liz nahm ihr Weinglas zur Hand und betrachtete amüsiert Tomás, einen sechsjährigen Jungen aus der Nachbarschaft, der auf dem Boden hockte und vollkommen in sein Spiel mit den bunten gläsernen Murmeln versunken schien.
Dann ging alles sehr schnell. Der erste Schrei war markerschütternd – aber kurz. Der rechte Flügel eines der Fenster der Bibliothek wurde aufgestoßen und im Rahmen erschienen der Oberkörper und die verstörten Gesichtszüge Doña Penélopes. Ihr Anblick erinnerte Liz sofort an das Gemälde „Der Schrei“von Munch. Offenbar unfähig, auch nur ein einziges klares Wort zu formulieren, kam aus dieser Mundhöhle nur ein anhaltend schmerzvoller Laut.
Bereits der erste schrille Schrei hatte einige Anwohner der Placetta Vella ans Fenster oder auf den Platz gelockt. Die betagten Schwestern Bertomeu hielten sich ängstlich bei den Händen gefasst und ihre fein frisierten Häupter zitterten damenhaft wie Espenlaub.
Dem spielenden Kind war vor Schreck die letzte Murmel aus der Hand geflutscht und diese kullerte nun auf dem abfallenden Gelände langsam Richtung Kanaldeckel.
Auch die beiden Senioren hatten reagiert. Sie stellten ihre altgedienten Spazierstöcke zwischen ihre Beine, legten gelassen ihre verschränken Hände auf den Knauf und blickten neugierig nach oben.
Liz krabbelte mühsam auf dem Boden herum und klaubte mit der rechten Hand Glasscherben auf, denn sie hatte beim ersten Schrei vor Schreck ihr Weinglas fallen lassen.
Mit der Linken hielt sie das Handy ans Ohr. „Fanny? Hier Liz. Komm so schnell du kannst zum centro cultural. In der Bibliothek muss etwas Schreckliches passiert sein. Beeilt euch!“
Auch Ricardo hatte dieser erste Schrei von seiner Arbeit am Computer weggelockt. Eilig rannte er zum Balkon, wo er beinahe über sein kriechendes germanisches Eheweib gestolpert wäre. „Ich muss sofort da rüber“, sagte Liz, drückte ihm das Papiertuch mitsamt den Glasscherben in die Hand, stopfte sich ihr Handy in die Hosentasche und entschwand seinen Blicken.
Äußerst vorsichtig bewegte er sich zwischen dem Tisch und den Stühlen hin zur Brüstung und sah gerade noch, wie seine Frau über den Platz hechtete und im Eingang des centro cultural verschwand.
Penelope de las Villas schrie immer noch, in der gleichen Lautstärke, mit der gleichen Verzweiflung und Hilflosigkeit. Liz rannte die valencianisch gekachelten Treppenstufen nach oben in den ersten Stock. Kurz darauf landete sie in den mächtigen Armen und wogenden Brüsten der señora de las Villas, die sich vom Fenster entfernt hatte und nun im Türrahmen stand. Liz blickte leicht benommen in das Gesicht der Bibliothekarin, die völlig überraschend mit den infernalischen Schreien aufgehört hatte und nun in eine Art Schockstarre verfallen war.
Vorsichtig befreite sich Liz aus der Umarmung und ergriff Penélopes linke Hand. Deren feuchte, heiße Finger umklammerten sofort wie ein Schraubstock die ihren mit der klaren Absicht, diese so schnell nicht wieder los zu lassen.
Liz atmete ganz tief ein, schob die Bibliothekarin vorsichtig etwas von sich und blickte an ihr vorbei ins Innere der Bücherei.
Was sie sah war zunächst einmal nur rot! Normalerweise hatte Liz kein Problem mit Blut, mit ihrem eigenen Blut – wohlgemerkt und in nicht nennenswerter Menge. Auf eine Lache dieses Ausmaßes war sie allerdings nicht vorbereitet. Sie fühlte, wie sich ihr Mageninhalt Richtung Speiseröhre bewegte. Der Zustand ihrer Knie wechselte von stabil zu gallertartig und sie war froh über den Halt, den ihr der feste Griff der Bibliothekarin bot.
Als nächstes registrierte sie wie durch einen Nebelschleier die bizarre Haltung des am Boden liegenden Mannes. Er lag nicht etwa zusammengesackt in seinem Blut, nein – man hatte ihn regelrecht drapiert. Der Tote lag auf dem Bauch, die Beine geschlossenen und die Arme im rechten Winkel ausgestreckten. Es sah so aus, als hätte man ihn am Boden gekreuzigt! „Das war Mord!“, flüsterte Liz, die am blutverschmierten Hinterkopf des Opfers deutlich eine lange, schmale Wunde entdeckt hatte.
Als sie nach einigen Minuten spürte, dass sich ihre Magensäfte wieder an Ort und Stelle befanden und auch ihre Atmung zu einem normalen Rhythmus zurück gefunden hatte, näherte sie sich dem Opfer. Zu ihrem beruhigten Magen und der gleichmäßigen Atmung hatte sich Neugierde gesellt.
Sie beugte sich hinunter. Als Fanny mit zwei Kollegen von der guardia civil den Raum betrat, richtete Liz sich langsam auf und wandte sich ihnen zu. Große, dicke Tränen rannen ihr über das Gesicht. „Das…das ist Manfred!“
„Cariño, versuch etwas zu essen.“Ricardo lockte liebevoll mit einer knusprigen Brötchenhälfte. „Danke Schatz, aber ich habe wirklich keinen Hunger.“Liz saß mit trübem Blick und angezogenen Beinen auf ihrem Stuhl und starrte durch die schmiedeeisernen Stäbe ihres Balkons nach unten auf dieses Unheil verkündende rot-weiß gestreifte Plastikband. Viel war allerdings nicht davon zu sehen, denn bereits jetzt in aller Frühe standen zehn, fünfzehn neugierig gaffende Menschen, ihre Handys im Anschlag, vor dem centro cultural in der Hoffnung, abgetrennte Leichenteile, blutdurchtränkte Kleiderfetzen oder sonst irgendeine Abscheulichkeit zu erspähen. Liz hätte kotzen können.
„Sag mal ehrlich, kannst du dir einen Reim darauf machen, warum man ausgerechnet Manfred erschlagen hat? Diesen harmlosen, pensionierten Oberstudienrat?“Nervös griff sie nach ihrem Fächer und kühlte Körper, Geist und Nervenkostüm mit ein wenig frischer Morgenluft. Es fiel ihr schwer, die schrecklichen Bilder des gestrigen Abends auszublenden. „Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten.“Ricardo trank einen Schluck Kaffee. „Vielleicht ein Raubmord?“
„Glaubst du ernsthaft, dass bei Manfred viel zu holen war?“Liz legte den Fächer beiseite. „Obwohl, bei seinem ausgeprägten Geiz. Ich habe mich oft gefragt, wofür er seine üppige Beamtenpension wohl ausgibt. Für Frauen sicherlich nicht.“
Die deutsche Autorin Cia Born liest am Freitag, 18. Oktober, um 20 Uhr in Benissas Kulturzentrum Les Cases del Batlle aus ihrem Buch „Das schwarze Kreuz von Benissa“. ISBN: ISBN 9783-95441-474-1, 374 Seiten, 13 Euro.