Die englischen Besatzer
Deutschland in der Nachkriegszeit – Auszug aus dem autobiographischen Buch „Ut mine Stromtid “von Peter Schwenkenberg
Was werden die Engländer, Mannschaften und ihre Offiziere gedacht haben, als sie in das ländliche Deutschland kamen? Die Bauern gingen 1945 ihrer Arbeit nach, mein Vater fast demonstrativ. Besetzungen und Dienst in einem fremden Land war die englische Berufsarmee sicherlich gewohnt. ‚Naiv sind sie, die Deutschen“, werden sie gedacht haben. Zu Recht, wenn man die politische Dummheit und den mangelnden Durchsetzungswillen der Deutschen betrachtet. Trotzdem hatten die Eroberer das schlechtere Los gezogen, die Deutschen konnten sofort mit der Mehrung des Wohlstands beginnen.
Das Verhältnis des kleinen Hofes Schwenkenberg zu unserem großen Nachbargehöft schräg gegenüber scheint immer ein Besonderes gewesen zu sein. Als der vaterlose, drahtige Jungbauer schwer kriegsversehrt zurückkehrte, ging auch bald der Verwalter. Jetzt kam Adelheid auf den Hof. Wer weiß eigentlich, dass das südaustralische Adelaide auf den Namen Adelheit basiert? Zu Zeiten des Verwalters hatte es auf dem Hof schon einmal eine ältere Magd dieses Namens gegeben, wir nannten sie „Olleit“.
Wenn ein Hamburger Kaufmann seinen Mitarbeiter brauchte, rief er nach seinem plattdeutschen Fuchs, der Mann hieß Voss.
Warum wollte der junge, kriegsversehrte sportliche Nachbar nun eines Tages unbedingt mit uns zum Melken unserer Kühe fahren, die in einer Koppel am ‚Sieden Achterdiek‘ grasten? Er setzte sich zum stummen Missfallen meines Vaters auch noch auf das Führerhaus unseres Gefährts mit dem „Grasmotor“. Das war waghalsig, denn es gab am Hinterdeich viele Schlaglöcher. Wie sollte er bei Gefahr mit seinem Holzbein und der zusammengeflickten Hand da herunterkommen? Von oben konnte er aber überblicken, was sich hinter dem Deich abspielte.
Hinter den niedrigen Deich vergnügten sich die unversehrten Befreier mit weiblichen Besiegten. Fröhliche wohlversorgte englische Soldaten machten an den fischreichen Wettern hungrigen deutschen Mädchen ihre Aufwartung. Er muss ein zweites Mal besiegt worden sein, wenn er auf seine Glieder blickte und den ‚Feind‘ mit den deutschen Fräuleins poussieren sah. Aber er nahm es sportlich und gründete selbst eine Familie.
Einige hatten in der einbrechenden Dunkelheit schön die Decken und Handtücher ausgebreitet. Mitunter sprang jemand in die ‚Wettern‘, wo sich ja auch die Barsche und Schleie tummelten, und schwamm darin. Einige hatten Verstärkung mitgebracht, sie waren zu zweit. Ob des Nachbarn Neugier der Grund für seinen Ausflug war? Lebend aus dem Krieg heimgekehrt, genoss er das Leben, auch auf Feiern und Bällen. Wenn die Gruppe dann nach Hause ging, ‚fiel‘ sie irgendwo zum ‚Spiegeleieressen‘ ein. Einmal auch bei uns, mitten in der Nacht.
Schicksalsbeladene Flüchtlingsmädchen wird man am ‚Sieden Achterdiek‘ vergeblich gesucht haben. Ich Romantiker hatte aber keine Ahnung, was die in der beginnenden Dämmerung dort trieben. Die übermüdet aussehende Bäckereiverkäuferin war mir aufgefallen, ich taxierte sie später im Laden beim Kauf eines „Amerikaners“. Sie soll später mit einem Soldaten nach England gegangen sein. Sie sei dort nicht glücklich gewesen, weil sie eine Deutsche war; damit ja ein Opfer der Engländer und des Krieges.
Viele Kriegsbräute kehrten enttäuscht zurück. Ein Shakespeare würde Stoff für Jahrhunderte in dem finden, was damals in Deutschland passierte. Richtige Dramen spielten sich ab, die englische Propaganda wurde auf der Insel oft als glaubwürdiger eingestuft als der Charakter der Deutschen.
Der Weg zu unseren zu melkenden Kühen war immer eine Achterbahnfahrt. ‚Komm Olsch, komm‘, rief mein Vater dann und die Kühe verstanden Plattdeutsch. Wegen der Schlaglöcher schwankte das Gefährt natürlich bedenklich. Oft stieg man aus, um die Hecken auf- und wieder zuzumachen. Verschiedene Bauern hatten ihre Kühe hier am Deich mit den saftigen grünen Weidegrasflächen eingezäunt. Die Fahrspuren waren mal mehr und mal weniger aufgeweicht. Mit Regenwasser vollgelaufene Löcher waren in der Spur. Wenn es zu schlaglöcherig war, wich mein Vater mit Pferd und Gefährt zum flachen Deich aus, das Gefährt geriet dabei in bedrohliche Schräglagen. Nur das Fahrkönnen verhinderte das Umkippen, was allerdings auch mal vorgekommen ist. Wenn das durch den Regen aufgeweichte Schlagloch den Grasmotor zum Deich hin kippen ließ, war das Aufrichten des Gefährts eine leichtes Spiel.
Unser kriegsversehrter Nachbar hatte auch noch einen Vetter, er wohnte bei uns gegenüber im ‚kleinen Haus‘ des Bauernhofes. Er machte sich als Obsthändler selbstständig. Er hatte noch mehr Unglück gehabt, wenn man das glückliche Überleben einmal ausblendet. Ihm fehlte zwar nur ein Bein, das war aber ganz bis oben amputiert worden. Krücken waren zwar vorhanden, sie waren aber eigentlich verpönt. Der Sprung vom schneidigen Soldaten zum Krückstockhumpeln ist ja auch ein gewaltiger. So wurde beim Gehen der Beinersatz immer mit einem Schwung nach vorne bewegt. Vor dem Kriege sollen die beiden gegeneinander geboxt haben, wurde erzählt. Es ist ja tatsächlich so, dass selbst Kriegsversehrte kaum ihr Schicksal beklagten oder dafür Schuldige gesucht haben. Wie oft werden sie für ihr oft stürmisches Vertrauen in Gewissensnöte gekommen sein?
‚Um den Deich‘ wohnte auch noch ein anderer junger, heimgekehrter Soldat in einem kleinen Haus. Walter gebrauchte Krücken, denn sein Holzbein reichte bis zum Oberschenkel. Er hatte sein Gewehr mit nach Hause genommen, Munition inklusive. Umsichtig stellte er die Krücken auf unserer Diele zur Seite, bevor er sich einige Stufen die Treppe zum Heuboden heraufhangelte. „Ich sehe sie“, sagte er. „Wogegen schießt du?“. „Gegen einen Balken“, ein Schuss und die wildernde Katze auf unserem Zwischenboden war tot.
Heute weiß ich, dass diese Aktion sehr ungut hätte enden können, denn auf illegalen Waffenbesitz stand die Todesstrafe. Im Mai 1945 kamen in zwei junge Horneburger wegen Waffenbesitz vor ein
Kriegsgericht. Das bereits ausgesprochene Todesurteil wurde später wegen ihrer jugendlichen 16 Jahre in eine mehrjährige Zuchthausstrafe umgewandelt.
Ausgemergelte sich selbst überschätzende deutsche Wehrmachtssoldaten waren aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und trafen auf selbstbestimmte Ehefrauen. Sie hatten sich Mut gemacht und auch schon mal durchblicken lassen, wenn ihr Soldaten-Ehemann nicht zurückkehre sei ihr Leben damit nicht zu Ende. Zwischen Heimkehrern und ihren Ehefrauen kam es oft zu Spannungen, insbesondere, wenn diese Einstellung dem Heimkehrer hinterbracht wurde.
Während es für die englischen Soldaten zu jener Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in fraulicher Hinsicht wie im Schlaraffenland war, kamen die Kriegsheimkehrer aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auch gut mit Schokolade ausgestattet, konnten die Engländer den deutschen, auch verheirateten Frauen den Hof machen, während der stramme ehemalige ‚Nazi‘-Soldat gefallen war oder Jahre in russischen Lagern geschmachtet hatte. Es hatte keine Nachricht von ihm gegeben. Wenn man über Verbrechen in Russland redet, sind selten jene gemeint, die an Deutschen begangen wurden.
Das aus Überlegenheitsgründen zunächst verhängte Verbot der Fraternisierung konnte die Besatzung nicht lange aufrechthalten. Es ging hoch her, auch in Neuenkirchen. Im kleinen Haus von Stechmann wurde ein Tanzschuppen aufgezogen. Sinnigerweise in Sichtweite des früheren Ortsbauernführers.
Seine heiratsfähige Tochter wird sich über dieses Treiben ihre Gedanken gemacht haben, als kolonial-gestählte englische Soldaten nun deutschen Fräuleins die anerzogenen Tugenden aushauchen ließen. Es ist schon seltsam, was die Menschen alles schlucken können und die Deutschen alles ertrugen.