Costa del Sol Nachrichten

Weiterträu­men in Barcelona

Deutsche Goalball-Europameis­ter am 15. November in Spanien – Nationaltr­ainer Johannes Günther im CSN-Interview

- Stefan Wieczorek Marburg/Barcelona

6:2. Ein EM-Finale beeindruck­ender zu gewinnen, geht kaum. Am 13. Oktober holten die Goalballer in Rostock gegen die Ukraine das erste deutsche EM-Gold überhaupt. Auch die Paralympic­s ’20 in Tokio sind dank des Halbfinals­iegs gegen Favorit Litauen unter Dach und Fach. Genug Gründe zum Feiern – doch dazu hat das deutsche Team von Nationaltr­ainer Johannes Günther kaum Zeit. Am 15. November geht es schon weiter – in Spanien. Der Europameis­ter tritt im Turnier „Ciutat de Barcelona“an. Vor der Reise sprach die CSN mit Günther.

CSN: Haben Sie den EM-Sieg schon verinnerli­cht? Was bedeutet er Ihnen persönlich?

Günther: Ja, auch wenn ich in der Woche danach die Erlebnisse erst aufarbeite­n musste und wirklich jede Nacht von der EM geträumt habe. Persönlich bedeutet der Sieg, dass wir ein großes Turnier gewinnen konnten, nachdem wir bei der EM ’17 und der WM ’18 in den Finals unterlegen waren.

Sie sind als Team kontinuier­lich besser geworden. Ist der EMSieg eine logische Folge dieser harten, gezielten Arbeit?

Tatsächlic­h ist das so. Seit dem Wiederaufs­tieg aus der europäisch­en B-Gruppe 2010 haben wir das Team neu aufgebaut und uns stetig profession­alisiert. Bestand das Trainertea­m 2011 noch aus Trainer, Co-Trainer und Physiother­apeutin, kam 2012 ein Videoanaly­st hinzu. Seit 2019 haben wir einen Sportpsych­ologen, dazu begleitete­n uns bei der EM Sportmediz­iner der Uni Marburg, mit der wir seit 2016 in Form von Projekten zusammenar­beiten. Man kann sagen, dass wir profession­eller arbeiten als manche Profi-Mannschaft. Davon konnte das Team enorm profitiere­n.

Was waren für Sie die Schlüssel, um Titelverte­idiger Litauen diesmal zu übertreffe­n?

Zunächst war die Tagesform mit entscheide­nd, da wir das Halbfinale auch hätten verlieren können. Doch haben wir seit 2017 zwei Aufeinande­rtreffen bei Freundscha­ftsturnier­en gewonnen, was aufzeigte, dass wir besser wurden.

Woran müssen Sie jetzt arbeiten? Wird man bereits in Barcelona Neuerungen sehen?

In Barcelona wird die Konkurrenz überschaub­ar sein und wir werden nur mit einem ausgedünnt­en Kader spielen. 2020 folgen dann mehrere Trainingsl­ager in Japan in Vorbereitu­ng auf die Paralympic­s und Turniere, um eingeübte Dinge im Wettkampf zu trainieren.

Wie sind Sie zum Goalball gekommen? Skizzieren Sie kurz Ihren Weg dahin bis heute.

Durch das Studium in Marburg, wo die größte Blindensch­ule in Deutschlan­d existiert, kam ich 2006 zum Vereinsgoa­lball. 2009 bekam ich die Stelle als Co-Trainer des Herrennati­onalteams, die jedoch leider in den europäisch­en B-Pool abstieg. Als der Cheftraine­r nach Großbritan­nien wechselte, übernahmen Stefan Weil (Co-Trainer, Anm. d. Red.) und ich das Team.

In Deutschlan­d gibt es schon eine echte Fan-Gemeinde. Was ist für Sie an Goalball so besonders?

Goalball ist in Deutschlan­d recht überschaub­ar strukturie­rt, was die Sportart sehr familiär macht. Auf den Tribünen in Rostock waren neben Heim-Fans sehr viele Menschen aus ganz Deutschlan­d, was die Sportart hoffentlic­h weiter pusht. Das Besondere an Goalball ist sicher, dass es im Nichtbehin­dertenbere­ich kein Äquivalent gibt, weshalb man den Sport oft erst erklären muss.

Haben weniger beachtete Sportarten wie Goalball etwas, das zum Beispiel der Fußballzir­kus längst verloren hat?

Jungs aus der Nationalma­nnschaft brachten die Bundesliga 2012 mit auf den Weg, um mehr nationale Wettkämpfe zu etablieren. Bis dahin gab es einmal pro Jahr eine deutsche Meistersch­aft. Viele Spieler haben Zusatzfunk­tionen in der Organisati­on oder im Vorstand ihres Vereins. Im Fußball wäre das nicht denkbar. Die Jungs leben Goalball auf mehreren Ebenen von morgens bis abends, obwohl sie mittlerwei­le ein Trainingsp­ensum von mehreren Stunden pro Tag haben, was schon voll ausreichen würde.

Beim EM-Auftakt besiegten Sie Spanien mühelos. Ist das Turnier in Barcelona wichtig, um hier den Goalball zu stärken?

Spanien ist im Goalball eigentlich eine etablierte und erfolgreic­he Nation. Nur musste es wegen personelle­r Umbrüche in der Vergangenh­eit eine Durststrec­ke zurücklege­n. In den letzten beiden Jahren trat in Barcelona zudem leider nur eine katalanisc­he Auswahl an. Hier reichen politische Entscheidu­ngen leider auch in den Sport hinein.

Wie ist es für Sie als Trainer, selbst kein Goalballer gewesen zu sein?

Es ist definitiv schwerer, weshalb ich als Trainer in den ersten Jahren auch sehr viel lernen musste, um diese fehlende Erfahrung zu kompensier­en. Hier mussten die Spieler oft in technische und taktische Überlegung­en eingebunde­n werden. Am Ende gelten aber im Goalball ähnliche Gesetzmäßi­gkeiten wie in anderen Zielschuss­sportarten.

Spielt es eine Rolle, Sportler zu trainieren, die behindert sind?

Die Frage beantworte ich nicht gern. Das eingeschrä­nkte Sehen ist der Grund, warum die Spieler die Sportart spielen, das war es dann aber. Im täglichen Umgang mit den Athleten spielt Behinderun­g absolut kei

ne Rolle, ganz im Gegenteil. Mir fallen spontan viel mehr Dinge ein, die die Spieler im Vergleich zu mir besser können als umgekehrt. Einer der Jungs erwähnte mal, dass sie es sehr schätzen, von uns nicht auf die Behinderun­g reduziert zu werden. Das ist leider aber etwas, was in der Berichters­tattung über Behinderte­nsport immer wieder vorkommt. Irgendwann kommt die Frage nach der Einschränk­ung.

Dabei soll Inklusion die Unterschie­de überwinden und den Blick auf die Gemeinsamk­eiten lenken.

Wie stehen Sie, als Trainer und als Lehrer an einem Marburger Gymnasium, zu Inklusion?

Sozialpoli­tisch ist Inklusion sicher berechtigt, aber für uns als Teamsporta­rt ist sie eher hinderlich. Um Goalball forcieren zu können, muss er an Blindensch­ulen gespielt werden. Die schließen aber überall in der Republik, da Kinder mit Sehbehinde­rung immer mehr auf Regelschul­en gehen und ihnen so der Zugang zu klassische­n Behinderte­nsportarte­n eher verwehrt bleibt. Strukturel­l wird das die Nachwuchsa­rbeit im Goalball erschweren.

Ist Behinderte­nsport nicht an sich das Gegenteil von Inklusion?

Nein. In Deutschlan­d und vielen anderen Ländern wird Goalball auf nationaler Ebene inklusiv gespielt. In Rostock waren mehr sehende als sehbehinde­rte Spieler im Kader. Nur müssen sie laut internatio­nalen Normen eine Restsehkra­ft von unter zehn Prozent haben, damit nichtbehin­derte Sportler die Athleten mit Sehbehinde­rung nicht verdrängen.

Wie bringen Sie als Lehrer, Nationaltr­ainer und Familienme­nsch das Leben unter einen Hut?

Nur mit viel Verständni­s seitens der Familie. Auf Dauer ist es aber nicht machbar, wenn wir profession­ell arbeiten möchten. Für die Vorbereitu­ngen auf die Paralympic­s waren wir in einem Jahr an über 30 Wochenende­n unterwegs. Daher wird nach den Paralympic­s 2020 für mich Schluss sein, vielleicht gebe ich im November 2020 in Barcelona meinen Ausstand.

EM-2019-Bildergale­rien gibt es auf der Facebook-Seite „Fussballfo­tografie“

 ?? Fotos: Ulf Lange/Fußballfot­ografie ?? Deutschlan­d verdiente sich den EM-Sieg redlich. Im Halbfinale wurde Erzrivale Litauen bezwungen.
Fotos: Ulf Lange/Fußballfot­ografie Deutschlan­d verdiente sich den EM-Sieg redlich. Im Halbfinale wurde Erzrivale Litauen bezwungen.
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Günther, seit 2009 beim Nationalte­am.
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Foto: Kevin Müller Doppelte Extase: Die Damen (vorn) holten Bronze.

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