Vom Ich zum Über-Ich
Selbstfindung und Selbstdarstellung vor 5.000 Jahren: Das Marq Alicante lädt zu einem Werkstattbesuch in die Jungsteinzeit
Über 220 rund 4.500 bis 5.300 Jahre alte Fundstücke zeigt das Archäologiemuseum Marq bis 19. April in seiner ersten Sonderschau dieses Jahres: „Ídolos. Miradas Milenarias“. Die Artefakte kommen aus 20 Museen Spaniens und Portugals und gehören zu jenen, an denen die Besucher gern nur einen flüchtigen Blick verschwenden, wenn sie sie überhaupt wahrnehmen. Auf den ersten Blick sind sie wenig spektakulär: Ein Knochen mit ein paar Ritzungen, kleine Steinskulpturen mit feinen Linien, dreieckige Proportionen, die für Laien schwer zu interpretieren oder von simplen Werkzeugen zu unterscheiden sind. Hier und da mal ein Gesicht, große Lochaugen, üppiger werdende Formen, die an Kultfiguren wie die Venus von Willendorf erinnern. Doch diese Urmuttergestalt ist schlappe 20.000 Jahre älter als das hier Gezeigte, das in das Ende der Jungsteinzeit (Neolithikum) und den Anbruch der sogenannten Kupfersteinzeit (Chalkolithikum) in die Jahre 3.300 bis 2.500 v.u.Z. fällt.
In zwei großen Sälen und einem verbindenden Gang gibt sich das Marq viel Mühe, diese uns fern scheinende Zeit näherzubringen, wie immer mit stimmungsvoller Inszenierung und dem dezenten wie nützlichen Einsatz multimedialer Hilfsmittel, die verhindern, dass man sich in Zeiten und Territorien verliert.
Angst und Müßiggang
Was man uns vorführt, ist nicht weniger als der Schritt vom Wir zum Ich und von da zum Über-Ich des Menschen, seine Selbsterkennung, Selbstfindung und Selbstdarstellung über das Mittel der
Abstraktion, der Kunst, des Kultes. Ein frühzeitlicher Werkstatt- oder Atelierbesuch sozusagen. Einige Aha-Erlebnisse hält die Ausstellung bereit, allein schon beim Betrachten der Zeitspannen und der geographischen Vergleiche. Die Menschheit machte in der Jungsteinzeit einen beachtlichen und für unsere heutige Perspektive entscheidenden Entwicklungssprung: die Sesshaftigkeit. Also der Wandel der Jäger und Sammler zu Ackerbauern und Viehzüchtern. In Mittelasien, vor allem in Anatolien und Mesopotamien – Gegenden, die wir heute als rückständig erleben – tausende Jahre früher als hierzulande. Und doch: Hier wie da liegt diese Epoche nur einen Wimpernschlag in der gesamten Evolutionsgeschichte zurück.
Ackerbau und Sesshaftigkeit brachten erstmals Überschüsse in der Produktion, womit nicht nur die Geburtenraten, Tausch und Handel angeschoben wurden, sich Priesterkasten, Spezialisierungen, Arm und
Reich herausbildeten, Geschlechterrollen geschärft wurden und sich Klassen und Schichten zeigten. Ein satter Bauch brachte noch zwei weitere wichtige Aspekte, die uns bis heute beherrschen: Die Angst, den Wohlstand zu verlieren, und den Müßiggang. Erstere wurde unter anderem mit der Anbetung höherer Mächte, der Vorfahren, Geister bekämpft oder zu mildern gesucht. Die Zeit aber, die man manchmal nun hatte, brachte den Menschen zur Kunst. Er dachte über sich selbst nach, wollte sich ein Bild machen und ausdrücken.
Mensch schuf Gott
Die Werke, die dabei entstanden und die das Marq uns zeigt, sind die Zeugen dieser Suche nach Identität, Ausdruck eines schöpferischen Willens, der den Menschen eben doch vom Tier unterscheidet. Im Unterschied zu den Darstellungen seiner Umgebung, die wir aus den Höhlenmalereien kennen, sind die „Ídolos“Darstellungen Seinerselbst. Auch dann, wenn der Erschaffer Übernatürliches beschreiben will, greift er zu seinem Bild. Dabei ist es geblieben, auch wenn die Genesis des Alten Testamentes etwas anderes behauptet. „Ídolos“, ein Begriff, der im 19. Jahrhundert aufkam, wird in Fachkreisen mit Abgott, Totem oder Götze, Götzenbild übersetzt, worin eine gewisse Abwertung im Duktus des angemaßten christlichen Göttermonopols
mitschwingt. Doch das Idol, anlehnend an Ideal und Idee, kommt dem, was wir hier sehen, als Begriff näher: freies Spiel beim Versuch, dem Denken Form zu geben.
1.000 Jahre auf 50 Metern
Und hier kommen die Aha-Erlebnisse. Im ersten Saal führt man uns von Verzierungen zu Körperformen, die sich auf Dreiecke in einer Weise reduzieren lassen, wie sie die Kubisten und abstrakten
Künstler im 20. Jahrhundert wieder aufnahmen. Überproportionierte Köpfe und vor allem Augen betonen das Bewusstsein für Kommunikation und das Wissen oder Gespür um den Sitz des Geistes. Die Fähigkeit zur Abstraktion, also zur Konzentration auf das Wesentliche oder das, was man betonen will, weckt lustige Parallelen. Denn einige Figuren von vor 4.000 Jahren haben frappierende Ähnlichkeit mit Comic-Gestalten von heute. Ob das etwas über uns moderne Menschen aussagt?
Es geht dem Jungsteinzeitalter nicht nur um die naturgetreue Abbildung, sondern um eine Interpretation, ein Ideal. Das Marq schafft es, uns einen Einblick in diesen Schöpfungsprozess zu verschaffen, ein Ausschnitt der Kunstgeschichte im iberischen Raum, Selbstportraits aus 1.000 Jahren auf 50 Metern.
Im zweiten Saal erfolgt die geographische Einordnung über ein Modell der iberischen Halbinsel und die Zuordnung zu den einzelnen Fundstätten. Sevilla und das portugiesische Évora stechen hervor, auch in Alicante fand man nicht wenige „Ídolos“. Werden im ersten Saal Entstehungsarten und
-muster erklärt, verdeutlicht der zweite Saal die Verwendung der Gebilde, sei es als Kultgegenstand, um Regen zu fordern oder Plagen abzuwenden, Vorfahren anzurufen oder Verstorbene zu bestatten, oder sich an sie zu erinnern. Auch die Eigendarstellung bis hin zu Tatoos und Körperbemalung, also die
Verfremdung als Möglichkeit des eigenen Ausdrucks oder der Definition von Gruppenzugehörigkeiten, hat hier ihren Platz. So hat doch alles, was der Mensch schafft, einen Zweck?
Kunst als Anfang vom Ende
Wo diese Ausstellung aufhört, geht es menschheitsgeschichtlich in Europa so richtig los. Auf Kreta wuchs ab 2.700 v.u.Z., also just noch in die gezeigte Zeit fallend, das von einer absolutistischen Herrschaftselite gestaltete minoische Reich mit Organisationsformen heran, die von unseren heutigen Systemen gar nicht so weit entfernt waren. Von dort kennen wir Kunstwerke, die uns ästhetisch und handwerklich weit näher sind und deutlich reicher erscheinen, als das, was auf der iberischen Halbinsel zu der Zeit geschnitzt wurde. Es bildeten sich von dort und aus dem Nahen und Mittleren Osten kommend feste Handelsbeziehungen über Europa aus, die interkulturellen Austausch brachten. Kunst, Kult und Wissenschaft potenzierten sich ebenso wie Geld, Krieg und Manipulation. In Mesopotamien und Ägypten entstanden Keilschriften, mit denen Gesetze in Stein gemeißelt wurden, und nicht mehr lange, dann führten sich mit dem Judentum und dem antiken Griechenland die uns lange prägenden Ideologien und Staatsformen ein.
Der Westen Europas verblieb so lesen wir es im Marq noch eine Weile länger in einem uns heute simpel erscheinenden Paradies einer Urzeit, die vermeintlich noch Optionen offen ließ. Die Ausstellung im Marq führt uns diese letzte, fast unschuldig anmutende Epoche noch einmal vor Augen, bevor die Menschheitsgeschichte Fahrt aufnahm und ihre heutige, unumkehrbar scheinende Richtung einschlug, der man in der Dauerausstellung regional folgen kann. Wir sehen eine Schnittstelle zwischen physiologischer Menschwerdung und der Selbsterkenntnis. Aber auch die Festigung von Strukturen, die zu Selbstzweifeln und zunehmend Selbstzerstörung führten. Das sollte uns einen Blick und einen Besuch, auch ein paar Gedanken wert sein.