Liebe Leser,
sind Sie eine Nullnummer geblieben oder haben Sie es auch in die Phase 1 geschafft? Wie dem auch sei, gönnen Sie sich einen Moment der Zufriedenheit, etwas Stolz steht Ihnen gut zu Gesicht. Sie haben auf Ihre Rechte verzichtet und der Allgemeinheit geholfen, eine schwere Krise zu überwinden. Wahrscheinlich will bei Ihnen kein Gefühl der Euphorie aufkommen, Sie haben auch um sich herum wenig davon gemerkt. Komisch, so viel gedämpfte Stimmung nach so vielen Tagen Quarantäne. Ja, es gibt zu viele Menschen, die nicht mitfeiern können, zu viel, das auf der Strecke blieb.
Tja, Herr Präsident, über den spanischen Weg kommen wir nicht aus der Corona-Krise. Wir gehen alle gemeinsam rein, aber wir kommen leider nicht alle gemeinsam raus – und leider auch nicht so schnell. Sicher, die Corona-Zahlen gehen täglich zurück, aber diese Pandemie macht nur der nächsten Seuche Platz. Derzeit stehen 101.942 Leute bei den Hilfsorganisationen in Madrid für Essen Schlange. Noch fällt es leicht, eine Madrider Regierung in die ultrakonservative Ecke zu stellen und ihren Regierungspartnern ein neoliberales Stigma anzuheften – selbst wenn jede Woche in der Phase 0 an die 1.000 Firmen sterben sollten, steht das in keinem Verhältnis zu den Tragödien in den Krankenhäusern und der hohen Ansteckungsgefahr. Ist doch so – oder? Und wenn das Elend zunimmt und im Herbst Corona nebst der Troika in den Startlöchern stehen, messen wir der Gesundheit immer noch einen höheren Wert als der Wirtschaft bei – oder? Niemand schaut in den Statistiken nach, wessen Gesundheit geschützt und wer dem sozialen Elend ausgeliefert wird – oder?
Schwer wird es uns fallen, Opfer für andere zu bringen, wenn auch die Existenz der eigenen Familie in Gefahr ist. Tragen wir einen Lockdown mit, wenn es für die Hypothek und die Schule unserer Kinder nicht mehr reicht? Dämlich, die Gesundheit über die Wirtschaft zu stellen oder die Wirtschaft über die Gesundheit. Als ob es für einen Menschen gesund wäre, sich für Essen anstellen zu müssen – bei der Ansteckungsgefahr.
Niemand bleibt zurück, hat der Präsident gesagt, aber alle sind mit Verlaub nicht nur die Leute über 60. Alle sind wirklich alle – die über 60, aber auch der Kellner an der Küste, der den Sommer braucht, um über den Winter zu kommen. Es gibt keinen Grund zur Freude, wenn eine Quarantänepflicht für Einreisende aus dem Ausland eingeführt wird. Das mag eine notwendige Schutzmaßnahme sein, weil die Ausgehsperre gelockert wird und die Regierung verhindern will, dass das Virus eingeschleppt wird und sich erneut ausbreitet. Kein Grund aber, „Bravo“zu rufen und hämisch zu meinen, jetzt sind der Sommer und der Tourismus endgültig gelaufen und die persönliche Sicherheit garantiert. Wer so denkt, hat nur sich und das Heute im Kopf und verschwendet keinen Gedanken an das Morgen. Es muss ein Leben nach Corona geben – und zwar diesen Sommer. Sonst bleiben zu viele zurück, Herr Präsident.