Sterben in Heimen
Madrid gerät wegen Coronakrise in Fokus der Justiz: Tod von alten Menschen in Kauf genommen
Das Leid in den Seniorenresidenzen während der Coronavirus-Pandemie könnte ein juristisches Nachspiel haben. Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt gegen die Leitung von 38 Seniorenheimen unter anderem wegen fahrlässiger Tötung, Misshandlung und unterlassener Hilfeleistung.
Madrid – mar. Das Leid in den Seniorenresidenzen in der Hochphase der Coronavirus-Pandemie könnte ein juristisches Nachspiel haben. Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen die Leitung von 38 Seniorenresidenzen unter anderem wegen fahrlässiger Tötung, Misshandlung und unterlassener Hilfeleistung. Hinzu kommen etliche Klagen von Angehörigen der in Heimen verstorbenen Menschen. Eine davon dürfte für Furore sorgen.
Die Grundlage für die Ermittlungen bilden 124 Berichte der Regionalregierungen sowie Meldungen der Notfalleinheit des Militärs UME. Die UME musste in vielen dieser Einrichtungen eingreifen, weil die Heime aufgrund der Erkrankung des Personals faktisch sich selbst überlassen wurden, vor allem in Madrid. Rund 200 Familien der rund 6.100 allein in der Hauptstadt registrierten Coronavirus-Toten haben sich in der Plattform „Marea de Residencias“zusammengetan und die Region Madrid samt der Ministerpräsidentin Isabel Díaz Ayuso (PP) verklagt. Die Klage liegt nun dem Obersten Gerichtshof vor, der prüft, das Parlament um eine Aufhebung der Immunität Ayusos zu ersuchen.
Madrids Präsidentin Ayuso steht auch im Fokus der Justiz wegen des Vorwurfs, dass ab Mitte März Anweisung gegeben wurde, Covid-19-Erkrankte bestimmter Gruppen aus Seniorenresidenzen nicht mehr in Krankenhäuser einzuweisen. Ihnen soll die Behandlung in Intensivstationen und auch anderen Fachabteilungen wegen der Überlastung der Krankenhäuser verweigert worden sein.
Mitglieder der Madrider Regionalregierung sollen Protokolle versendet haben, die den Krankenhäusern und den Verantwortlichen der Altersheime „dringend empfohlen haben sollen, zu alte Patienten, Patienten mit chronischen Vorerkrankungen, Behinderte und Menschen unter Vormundschaft von der Behandlung auszuschließen“, heißt es. Die Klageschrift resümiert: „Man hat entschieden, diese Menschen sterben zu lassen.“Diese Protokolle liegen vor und stammen vom regionalen Gesundheitsministerium.
Díaz Ayuso bestreitet, jemals „Anweisungen an Krankenhäuser gegeben“zu haben. Lediglich „ein Entwurf wurde erarbeitet“. Mit dem Ziel, einen totalen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern, was mit dem Nothospital Ifema
im Messezentrum gelang, aber zu spät kam für die meisten der 6.000 Senioren, um deren Todesumstände es im Prozess gehen soll.
Die Tageszeitung „El País“publizierte am 5. Juni die Schreiben, aus denen hervorgeht, dass sich die Madrider Regionalregierung über die Schwere ihrer Handlungen bewusst gewesen sein muss. Danach habe Landessozialminister Alberto Reyero (Ciudadanos) seinen Kollegen im Gesundheitsressort, Enrique Ruiz Escudero (PP), bereits am 22. März vor „schweren juristischen Konsequenzen“gewarnt und auch wörtlich auf den diskriminierenden Charakter der Selektion hingewiesen. Vor allem die Ausklammerung von Menschen mit Behinderung bereiteten ihm Sorgen.
Reyero wies auf die „abweisende Haltung der Krankenhäuser“hin, forderte „eine Verstärkung der medizinischen Versorgung“. Reyeros Schreiben blieben – so die Zeitung – ohne Antwort. „El País“liegen weitere Schriftstücke vor, die belegen, dass die oben genannten Protokolle Handlungsanweisungen für die 475 Altersresidenzen in der Region Madrid waren. Ferner liegt der Vorwurf im Raum, dass in etlichen Fällen die Todesursache Covid-19 durch die Heimbetreiber und die Regionalbeamten vertuscht worden sei, unter anderem mit Hilfe der Express-Beerdigungen.
Die Ausklammerung von Behinderten bereiteten Reyero Sorgen