100 Tage Notstand
Spanien und das Coronavirus: Rückblick auf einen Frühling im Ausnahmezustand
Vorspiel
31. Januar 2020: Das Gesundheitsministerium bestätigt den ersten Fall von Covid-19 auf spanischem Boden. Weit weg, auf der kleinen Kanaren-Insel Gomera hat man einen deutschen Touristen isoliert. Kein Grund zur Panik.
13. Februar: Nach Absagen mehrerer großer Aussteller in der Sorge um ihre Mitarbeiter, sagen die Veranstalter den Mobile World Congress in Barcelona ab.
19. Februar: Der Valencia FC spielt in der Champions League gegen Atalanta Bergamo mitten im Coronavirus-Hotspot Lombardei. Rund 3.000 Fans sind mit dabei.
23. Februar: Das Gesundheitsministerium besteht darauf, dass alle Coronavirus-Fälle in Spanien eingeschleppt sind, einen „lokalen Ansteckungsherd gibt es nicht“.
3. März: Der erste Coronavirus-Tote in Spanien wird anhand einer Obduktion registriert. Der Mann starb bereits am 13. Februar in Valencia. Gesundheitsminister Salvador Illa „empfiehlt“, Sportevents ohne Publikum abzuhalten.
6. März: Die Guardia Civil stellt auf eigene Faust eine Gruppe unter Quarantäne, die sich in La Rioja bei einer Beerdigung mit Sars-CoV-2 infiziert hatte. Der leitende Offizier muss harsche Kritik einstecken. Drei Wochen später ist er tot, gestorben an Covid-19.
8. März: Am Internationalen Frauentag marschieren 50.000 Menschen durch Madrid, Vox hält am gleichen Tag einen Parteikongress ab, im Wanda Metropolitana spielt Atlético Madrid vor Publikum, der öffentliche Personennahverkehr transportiert über eine Millionen Menschen. Das Gesundheitsministerium riet lediglich jenen von der Teilnahme ab, die Symptome wie Husten oder Fieber hätten. Nur die Frauentagsdemo wird von der rechten Opposition später zum Hauptschuldigen für den schweren Verlauf der Coronavirus-Krise instrumentalisiert.
9. März: Madrid ordnet die Schließung der Schulen an. In Valencia leitet ein Knallfeuerwerk Mascletá die Fallas-Fiestas ein, die am Tag danach abgesagt werden.
11. März: Die Weltgesundheitsorganisation erklärt Covid-19 zur weltweiten Pandemie.
13. März: Spanien steht bei 128 Coronavirus-Toten und 4.209 registrierten Infizierten. Eine Verdoppelung innerhalb eines Tages und das bei minimaler Testdichte und -sicherheit. Am gleichen Tag übersteigt Italien die 1.000er-Grenze bei den Todesopfern.
Eskalation
14. März: Die Regierung verhängt den Notstand, verfassungsrechtlich „Alarmzustand“und übernimmt die Zentralgewalt über das Gesundheitswesen, die Bildung, das Arbeitsrecht, alle Polizeistrukturen und die Mobilität der Bürger im ganzen Land. Der von Regierungschef Pedro Sánchez im Fernsehen in dramatischen Worten verkündete Notstand angesichts „der größten Krise seit dem Bürgerkrieg“, gilt zunächst für zwei Wochen, danach muss das Parlament verlängern.
Über das ganze Land wird eine Ausgangssperre verhängt, nur Einkaufen, Arztbesuche und andere essentielle Gänge sind erlaubt. Kein Sport, keine Spaziergänge wie in anderen Ländern. Nur Läden für Grundnahrungsmittel, Kioske, Apotheken bleiben offen, alle anderen müssen schließen. Binnen Tagen fällt der Verkehr, um bis zu 90 Prozent ab. Ein Land,
das praktisch das ganze Jahr im Freien lebt, wird in die Wohnungen gesperrt. Verwaiste spanische Straßen flimmern über die TVBildschirme weltweit. Dass es ernst wird, merkt auch der Letzte, als die Semana Santa in Sevilla mit ihren jahrhundertealten Prozessionen abgesagt wird. Bald wird Ostern in ganz Spanien gestrichen, es folgen Fiestas bis in den Herbst.
15. März: Noch immer flüchten Madrilenen in ihre Ferienwohnungen an die Küste, was die dort Wohnenden wütend macht, weil sie fürchten, die Hauptstädter schleppen das Virus in ihre Heimat. Es braucht einige Tage, bis die Polizei die Lage in den Griff bekommt.
Tausende Touristen sitzen noch in Spanien fest, weil ihre Flüge oder Fähren storniert wurden. Campingplätze und Hotels müssen aber schließen. Die Rückkehr zum Erstwohnsitz bleibt indes immer erlaubt, was für die meisten einen Ausweg ermöglicht. Viele Paare und Familien sind getrennt, alte und kranke Menschen bleiben ohne Besuch ihrer Familien isoliert.
17. März: Sánchez kündigt „das größte Wirtschaftshilfspaket aller Zeiten“an. Bis zu 20 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung will er in die stillstehende Wirtschaft stecken, wenn die „AnsteckungsKurve gebogen“ist. Die Mittel sollen aus neuen Schulden, EUHilfen sowie einer späteren Steuerreform generiert werden.
Als erster Schritt können alle Betriebe, die wegen des Notstandes nicht weiter produzieren können, ihre Angestellten in zeitweise Freistellung schicken, die ERTE, der Staat zahlt 75 Prozent des Lohns. Die Auszahlung wird sich indes stark verzögern und viele Menschen ins Elend stoßen. Fast vier Millionen ERTE-Anträge werden es letztlich sein. „Wir lassen niemand zurück“, kündigt Sánchez an. Es wird eine Weile dauern bis die Regierung alle erfasst: Selbständige, Menschen ohne oder mit minimalen Einkommen, die nicht „im System“sind, leiden am stärksten. Die Generation U35, die schon die Finanzkrise mit voller Wucht traf, ist wieder Verlierer.
Panik
20. März: Die Zahl der Coronavirus
Anfang April ist die Stimmung im Land apokalyptisch
zugeordneten Toten steigt über 1.000, die Zahl der Infizierten verdoppelt sich vom Vortag auf 17.187. Doch Tests gibt es zu wenig. Die es gibt, stellen sich als unzuverlässig heraus, ein nicht lizensierter Händler hat den Staat über den Tisch gezogen.
Das Gesundheitsministerium, das mit dem Krisenstab unter Leitung von Dr. Fernando Simón, einem erfahrenen Virologen, täglich eine Pressekonferenz abhält, eiert bei den Kriterien rum. Es entsteht ein Dilemma: Registriert man alle symptomatischen Verdachtsfälle, schafft man bewusst eine Fehlerquote. Verlässt man sich auf die wenigen PCR-Tests auf SarsCoV-2-Erbgut, erfasst man nur einen kleinen Teil. Das Ministerium entscheidet sich für Letzteres, um eine Tendenz ablesen zu können und verdonnert die Regionen auf diese Kriterien. Nicht alle halten sich daran.
23. März: Die Krankenhäuser, vor allem die Intensivstationen in Madrid, arbeiten am Anschlag. Bilder mit an Sauerstoffflaschen angeschlossenen Patienten in den Gängen machen die Runde. Das Gesundheitspersonal klagt über mangelnde Ausrüstung, Müllsäcke dienen als Schutzkleidung, es feh
len Beatmungsgeräte, Schutzmasken, Handschuhe. Erste Notspitäler aus Zelten und Containern werden errichtet. Private Initiativen entstehen, die Schutzmasken nähen oder Trennwände herstellen.
24. März: Die Regierung verkündet die Verlängerung des Notstandes, eine breite parlamentarische Mehrheit trägt sie mit. Das Militär rückt flächendeckend aus, die Unidad Militar de Emergencias (UME) desinfiziert öffentliche Plätze und requiriert die Madrider Eissporthalle als provisorische Leichenhalle. Sie wird zum Symbol des Kollapses und zu einem Beleg, dass es sich „nicht um eine Grippe“handelt, wie Fakenews behaupten.
Die UME entdeckt bei ihren Inspektionen Altersheime, die nicht mehr betreut werden, weil die Angestellten in Quarantäne sind. „Viele Leichen, die seit Tagen in den Zimmern liegen“, heißt es im Protokoll. Daraus sollte sich der größte Skandal der CoronavirusKrise entwickeln. Das Fernsehen zeigt Pfarrer, die die Aussegnungskapelle zu einem Drive by umwandeln müssen, um im Minutentakt Tote zu segnen und die Zeremonie am fahrenden Auto per Skype den Angehörigen zu übermitteln.
Lockdown
29. März: Die Zahl der registrierten Toten hat sich binnen fünf Tagen auf 6.528 verdoppelt. Die Regierung schließt bis nach Ostern auch alle nicht essentiellen Industrien, das Land geht in den totalen Lockdown und stellt auf Kriegswirtschaft um. Autohersteller bauen Beatmungsgeräte, Brauereien und Destillerien stellen auf Desinfektionsmittel um.
Die Regierung kauft sanitäre Ausrüstung in China für 432 Millionen Euro, die Tests stellen sich bald als nutzlos heraus. Landesministerpräsidenten versuchen mit eigenen Kontakten zu weltweit vernetzten Unternehmern Material ins Land zu holen, was aber selten gelingt. Die Türkei beschlagnahmt eine Lieferung von Beatmungsgeräten bei der Zwischenlandung.
30. März bis 2. April: Fernando Simón, das Gesicht des Krisenmanagements der Regierung, erkrankt am Coronavirus und muss in Quarantäne. In diesen Tagen erlebt Spanien den Höhepunkt an registrierten Fällen mit 9.222 neuen an einem Tag auf 110.238 insgesamt sowie 950 Toten in 24 Stunden, insgesamt 10.003. Im Madrider Messegelände Ifema wird das größte Krankenhaus des Landes improvisiert. Die Stimmung ist apokalyptisch.
Gewöhnung
8. April: Die Spanier haben sich in ihrer Quarantäne eingerichtet, der Volkshumor hilft beim Durchstehen.
Im Netz kursieren Videos von improvisierten Osterprozessionen von Balkon zu Balkon. Künstler veranstalten Konzerte im Internet, Home Office wird zum Standard. Jeden Abend um 20 Uhr erklingt im ganzen Land emotionaler Applaus für die Ersthelfer in der Krise, vor allem für die aufopfernd kämpfenden Mitarbeiter im Gesundheitswesen, in der Mehrzahl Frauen. 20 Prozent aller Infektionen fallen auf das Gesundheitspersonal, erste Ärzte und Schwestern sind unter den Toten. Eine Debatte über die Stärkung des öffentlichen Gesundheitssektors wird geführt, aber bald wieder verhallen.
9. April: Erste Überlegungen in der Regierung werden angestellt, wie man aus dem Lockdown kommen könnte, Zentren für die Isolation asymptomatisch Infizierter werden in Betracht gezogen, das Finanzministerium spricht von „Rückkehr in die Normalität“, der Gesundheitsminister widerspricht vehement: „Es gibt dafür kein Datum.“Die Regierung verlängert den Alarmzustand bis 26. April. Spanische Teams arbeiten an der Entwicklung von möglichen Impfstoffen. Man ist aber noch in der Anfangsphase, Experten rechnen mit einer Entwicklungsund Testzeit von mindestens eineinhalb Jahren. Die Biomediziner am führenden Institut Carlos III. beklagen, dass ihr Forschungsteam seit der Finanzkrise halbiert wurde.
19. April: Täglich sterben noch immer 400 bis 500 Menschen an Covid-19, die Tendenz ist fallend, der Notstand wird wiederum verlängert, bis 11. Mai, einige Gewerbe können wieder arbeiten. Die Arbeitslosenzahlen erreichen fast die Werte der Finanzkrise, trotz Kündigungsverbot und ERTENetz. An den Ausgabestellen der Hilfsorganisationen für Lebensmittel bilden sich kilometerlange Schlangen in Madrid, in Andalusien und auch an der Costa Blanca. Allein in Torrevieja können über 3.000 Menschen sich nicht mehr selbst ernähren. Analysen machen klar: Coronavirus hat diese Armut nicht verursacht, es deckt sie lediglich schonungslos auf.
Wende
26. April: Kinder bis 13 Jahre dürfen einmal am Tag in Begleitung eines Erwachsenen spazieren gehen, unter strengen Auflagen. Die Regierung ringt weiter mit den Kriterien der Erfassung der Fallzahlen. Madrid und Barcelona melden nachträglich über 6.000 mehr Todesfälle, vor allem aus Altersheimen. Die Eissporthalle hat als Leichenschauhaus ausgedient.
27. April: Die Regierung kündigt die Schaffung eines Grundeinkommens für die Ärmsten an. Intern gab es dazu große Reibereien über Umfang und Höhe zwischen der PSOE und dem Juniorpartner Podemos. Ab Juni sollen bis zu 850.000 Haushalte, 2,3 Millionen Menschen, also fünf Prozent der Bevölkerung monatlich zwischen
462 bis 1.050 Euro pro Haushalt als Überlebenshilfe erhalten. Die rechte Opposition spricht von „Almosen statt Jobs“.
29. April: Die Regierung kündigt an, dass Erwachsene in festgelegten Zeitrahmen für das Spazierengehen und Sporttreiben das Haus verlassen können, einmal am Tag für ein paar Stunden. Erste Regionen fordern größere Erleichterungen, weil bei ihnen weniger Fälle vorkommen.
Sánchez wird von der PP beschuldigt, das Land ruiniert, die Toten verursacht und Spanien faktisch verraten zu haben. Er nutze den Notstand, um seine „soziokommunistische Sektierer-Agenda umzusetzen“. Auf diesem Niveau bleibt der politische Diskurs bis in den Juni. Vox-Politiker fordern sogar, das Militär solle die „Macht in den Straßen übernehmen“und die Regierung müsse zurücktreten.
30. April: Zum Applaus von den Balkonen gesellt sich immer häufiger auch das Topfschlagen als Protest gegen die Regierung, die erst zu spät und dann falsch sowie am Ende zu streng gehandelt hätte. Kritiker verweisen auf andere Länder wie Deutschland, Schweden oder Griechenland mit viel milderen Verläufen bei größeren Freiheiten. Die Regierung verteidigt sich mit Verweis auf die wissenschaftlichen Daten.
1. Mai: Die Gewerkschaften begehen den Tag der Arbeit ohne Arbeit und ohne Demo, virtuell. Das Nothospital Ifema in Madrid kann geschlossen werden, auch wenn die Intensivstationen noch immer unter Anspannung arbeiten. Den Akt der Schließung nutzt die Landesministerpräsidentin von Madrid, Isabel Díaz Ayuso, für eine sorglose Massenfeier mit Bocadillos und Händeschütteln, gegen jede Notstandsregel. An anderer Stelle verteidigt sie die Verteilung von Fast Food für die ärmsten Schüler über private Caterer als geeignete, weil „beliebte“Verköstigung gegen „die venezolanischen Menüs“, die die Linke den Kindern auftischen wolle.
2. Mai: Erstmals nach eineinhalb Monaten dürfen die Spanier wieder vor die Tür, um zu spazieren oder Sport zu treiben, einige Fotos aus Ballungszentren erwecken Sorge. Doch laut Krisenstab hält sich die große Mehrheit an die Regeln. Bis dato haben die Sicherheitskräfte 1.700 Menschen wegen Verstößen gegen die Notstandsgesetze verhaften müssen und 800.000 Geldbußen zwischen 300 und 10.000 Euro verhängt.
6. Mai: Der Regierung gelingt eine weitere Verlängerung des Alarmzustandes, auch ohne die Stimmen der PP sowie der katalanischen Separatisten. Dafür stimmt unter anderem Ciudadanos mit Sánchez, die zuletzt rechtslastige Partei sucht in einer Re-Liberalisierung ein Zukunftskonzept. Spanien registrierte am 4. Mai mit 164 den geringsten Zuwachs an Toten seit Ausrufung des Notstandes.
Lockerung
10. Mai: Die ersten Bars und Restaurants dürfen ihre Terrassen wieder öffnen, unter strikten Regeln. Spanien ist das Land mit der höchsten Bardichte der Welt, der Sektor zusammen mit der Hotellerie ist für zwölf Prozent des BIP zuständig. Viele Wirte aber halten ihre Lokale geschlossen, weil die vorgeschriebene Sitzplatzauslastung sich für sie nicht rechnet und ohne Touristen ohnehin nicht viel einzunehmen sei. Ähnlich verhal
ten sich viele Inhaber kleiner Geschäfte.
8. bis 15. Mai: Spanien liegt mittlerweile bei offiziell registrierten 26.000 Coronavirus-Toten. Ein Vier-Stufenplan soll Spanien in „eine neue Normalität“führen, verkündet Regierungschef Sánchez. Madrid und Barcelona schaffen es zunächst nicht in die Phase 1 der Deeskalation, sie waren und sind die Hotspots der Coronavirus-Krise in Spanien.
Eine repräsentative Prävalenz-Studie stellt vorläufig fest, dass die Zahl der tatsächlich an Sars-CoV-2-Infizierten in Spanien um rund das Zehnfache über den Regierungszahlen liegen dürfte. Damit bestätigt sich die von den Experten angenommene Dunkelziffer. Auf der anderen Seite: Nur rund fünf Prozent der Spanier entwickelten bisher Antikörper, von einer Herdenimmunität ist man also weit entfernt, eine zweite Welle damit wahrscheinlich.
20. Mai: Leichte Rückschläge bei den Fallzahlen, wieder 95 Tote an einem Tag. Die allgemeine Maskenpflicht im öffentlichen Raum, überall dort, wo man nicht wenigstens zwei Meter Abstand wahren kann, wird bekannt gegeben. Im öffentlichen Verkehr ist sie generell Pflicht.
Während Spanien über die „neue Normalität“streitet, gerät die Pandemie in einigen Ländern außer Kontrolle: Die USA und Brasilien, beide von Autokraten geführt, nehmen Italien und Spanien die Spitzenplätze bei den Fallzahlen ab. In Südamerika, vor allem in Peru und Bolivien wütet das Virus praktisch unkontrolliert.
23. Mai: Pedro Sánchez, der vorsichtigste Premier Europas, kündigt die Öffnung der Grenzen für den internationalen Tourismus ab 1. Juli an, was auch die Leserschaft der CN zunächst mit ungläubigem Staunen registriert. Bis dahin gilt für Einreisende eine 14tägige Pflicht-Quarantäne. Am gleichen Tag wird das Grundeinkommen im Ministerrat verabschiedet. Spaniens Profi-Fußballligen dürfen ab 11. Juni wieder mit dem Spielbetrieb starten. Die EU bringt ein 750-Milliarden-Euro Hilfspaket auf den Weg, eine Mischung aus Schuldenaufkauf, neuen Schulden, Krediten und Subventionen. Bei der Frage der gemeinschaftlichen Verschuldung, stellen sich Länder des nördlichen Euro-Raums bis heute quer.
In mehreren Städten kommt es zu Demos gegen die Regierung. Im Madrider Nobelviertel „Salamanca“fordern Hunderte „Freiheit statt Kommunismus“, einige lassen sich von ihrem Chauffeur vorfahren. Am anderen Ende der Stadt stehen Menschen sieben Stunden für eine Tüte Lebensmittel an.
25. Mai: Das Gesundheitsministerium deutet an, dass einige Regionen früher aus dem Notstand ausscheiden könnten. Die Mobilität zwischen den Provinzen einer Region ist ab Phase 3 des Deeskalationsplans möglich, die allgemeine Bewegungsfreiheit in Spanien jedoch erst, wenn alle Regionen in der „neuen Normalität“angekommen sind.
29. Mai: Gesundheitsminister Salvador Illa hat eine gute und eine schlechte Nachricht. Von größeren Rückfällen ist seit den Lockerungen nichts bekannt. Aber 51.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens haben sich mit dem Coronavirus angesteckt. Eine zehntägige Staatstrauer für die Corona-Opfer wird angeordnet.
Königin Letizia lässt sich als Rot-Kreuz-Helferin filmen. Ihr Mann, König Felipe VI., hat den Adel des Landes zur Spende von Milch und Öl für Arme aufgerufen. Gegen seinen Vater ermittelt das Oberste Gericht wegen Geldwäsche und Steuerbetrug. „Corona-Virus“, spottet das Netz.
Aufarbeitung
Seit 1. Juni öffnen nach und nach die Strände wieder für das Baden, unter teils verwirrenden Vorschriften für Abstände, Gruppenbildungen und mit vielen Verboten. Manche Gemeinden sind damit überfordert, so öffnen die Touristen-Hot-Spots an der Costa Blanca in Benidorm und Torrevieja ihre Strände erst Mitte Juni.
3. Juni: Die sechste und nach Aussage von Sánchez letzte Verlängerung des Alarmzustandes, bis 21. Juni, wird im Parlament verabschiedet. Dem Gesundheitspersonal wird der Prinzessin von Asturien-Preis zuerkannt. Seit zwei Tagen registriert Spanien keine Coronavirus-Toten. Ein Prinz aus Belgien hat unerlaubt in Sevilla gefeiert und sich dabei mit dem Virus infiziert. Bei seiner Rückkehr erwarten ihn Quarantäne und ein Bußgeldbescheid über 10.500 Euro aus Spanien.
4. Juni: Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska entlässt den Chef der Guardia Civil von Madrid, gleichzeitig Chef der Kriminalpolizei, wegen „Vertrauensverlust“. Er wirft dem Coronel vor, politisch motivierte Berichte an die Staatsanwaltschaft über die Demos am 8. März erstellt und an die Presse weitergeleitet zu haben. Ein Köpferollen bei der stolzen Truppe setzt ein, die Opposition fordert den Rücktritt des Ministers. Ein Gericht stellt die Ermittlungen bald selbst ein.
6. Juni: Jetzt haben es auch die Sorgenkinder der Krise: Madrid, Barcelona, Lerída sowie einige Provinzen von Castilla und León in die Phase 2 der Deeskalation geschafft, die Hälfte der Bevölkerung ist bereits in Phase 3.
7. Juni: Die Landesregierung Andalusiens verlangt von der Zentralregierung die jährliche „Operation Meerenge“aus Angst vor einem Rückfall zu stoppen. Bis zu 3,5 Millionen in Europa lebende Einwanderer aus Nordafrika könnten auf dem Weg in den Heimaturlaub stranden.
8. Juni: Die Pflichtquarantäne wird von 14 auf 10 Tage gesenkt. Die Spanische Nationalbank prognostiziert einen Einbruch der Gesamtwirtschaftsleistung (BIP) von 15 Prozent für 2020, die Weltgesundheitsorganisation warnt, dass Spanien bei einer zweiten Welle das am meisten betroffene Land Europas sein würde. Wissenschaftler sind uneins und meinen, eine zweite Welle wird kommen, aber das Virus habe sich mittlerweile abgeschwächt.
Sie warnen aber vor einem Zusammentreffen der nächsten Grippewelle mit Corona, was eine tödliche Mischung wäre.
9. Juni: Schauerliches wird bekannt: Interne Dokumente sollen belegen, dass Madrids Landesregierung die Behandlung von Senioren aus Altersheimen in Krankenhäusern während der Coronavirus-Epidemie per Anordnung verhinderte – auch nach nichtmedizinischen Kriterien. Über 200 Sammelkläger wollen Landesministerpräsidentin Isabel Díaz Ayuso dafür ins Gefängnis bringen.
Ayuso streitet alles ab, es sei ein Entwurf gewesen. Doch immer mehr Beweise tauchen auf, dass es Anweisungen zur Selektion gab. Über 6.000 Menschen seien ohne ärztliche Versorgung, ohne Angehörige, teils ohne jede Begleitung gestorben. Die Justiz ermittelt.
11. Juni: Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez zieht im Parlament eine vorläufige Coronavirus-Bilanz. Der Notstand habe „450.000 Menschenleben gerettet“, sagt er und stützt sich dabei auf eine Studie des Imperial College London. Gesundheitsminister Salvador Illa räumt ein: „Wir sind in dieser Krise alle zu spät gekommen.“Spaniens Regierung und die rechte Opposition bezichtigen sich gegenseitig, Feinde der Demokratie zu sein. Dennoch wird das Gesetz zu Mindesteinkommen gemeinsam beschlossen, ohne Gegenstimmen.
Neue Normalität
13. Juni: Die Regierung sucht eine Mehrheit für das „Gesetz der neuen Normalität“zum Ende des Notstands am 21. Juni, das mit der Rückgabe der Befugnisse an die Autonomen Regionen einhergeht. Das Monitoring der Covid-19-Fälle soll in zentraler Hand verbleiben, die Maskenpflicht bleibt landesweit in Kraft. Nachrichten aus Großbritannien und Russland machen Hoffnung, dass bis Jahresende ein Impfstoff verfügbar sein könnte.
14. Juni: Bei seiner wöchentlichen TV-Ansprache verkündet Pedro Sánchez, dass die Grenzen zu den Schengenstaaten schon am 21. Juni wieder öffnen und der Tourismus starten kann. Spanien reiht sich damit in den Wettlauf der Mittelmeer-Anrainer um die Touristen aus dem Norden Europas ein. Offiziell, weil die Zahlen das hergeben, aber alle wissen, dass die Branche um jeden Euro kämpfen muss.
15. Juni: Tausende Deutsche landen in Mallorca. Sie sind die ersten Urlauber, die als „Versuchskaninchen“noch vor der amtlichen Grenzöffnung am 21. Juni ins Land dürfen. An ihnen will man das Handling der Touristen testen und verbessern, um Rückfälle und einen erneuten, ruinösen Shutdown zu vermeiden.
100 Tage Notstand und offiziell 27.136 Tote, Hunderttausende Arbeitslose und einige Lektionen über Stärken und Verletzlichkeit später, steht Spanien mit Sommerbeginn an der Schwelle der „neuen Normalität“.
„In dieser Krise waren wir alle zu spät dran.“Gesundheitsminister Salvador Illa