Immergrüne Spur
Auf Abstand: Eine Radtour auf der Vía Verde als Freizeitalternative im Corona-Sommer
In Corona-Zeiten boomt der Hinterlandtourismus und mit ihm die alternativen Freizeitaktivitäten. So bietet sich eine Radtour auf einer der Vías Verdes an. Stillgelegte Bahnstrecken wurden zu Wanderwegen umgewandelt und führen insgesamt 2.900 Kilometer durch Spanien.
In ganz Spanien gibt es derzeit kaum eine freie Casa Rural. Die Renaissance des Hinterlandtourismus ist gezwungenermaßen eine Folge des Coronavirus, ermutigen doch staatliche und regionale Behörden die Spanier, ihr Urlaubsbudget bis zum letzten Euro im eigenen Land auszugeben, wozu sich die Angst vor Flughäfen gesellt. Vor diesem Panorama werden die Vías Verdes – stillgelegte Bahnstrecken – zu einer großen Chance für Freizeit- und Sportaktivitäten für all jene Familien, die plötzlich ihre entspannten Tage auf dem Land füllen müssen und nicht wissen wie.
Die meistgenutzten Vías Verdes in der Provinz Alicante – in Alcoy und am Bergmassiv Maigmó – gehören zum selben Eisenbahnprojekt, das begonnen und nie fertiggestellt wurde: die Zugverbindung zwischen Alcoy und Alicante. Erstere war Ende des 19. Jahrhunderts die wichtigste Industriestadt der Provinz, letztere der nächste und wichtigste Güterhafen. Sie waren dazu verdammt, sich zu verstehen, doch sie schafften es nicht oder brauchten zu lange, und verpassten ihren Moment.
Bürokratie, Wechsel des politischen Regimes, Kriege, Umstellungen in der Industrieproduktion etc. verwandelten diese Eisenbahnlinie in einen Albtraum der verlorenen Zeit. Von der ersten Baulizenz 1873 bis zur Aufgabe der Arbeiten im Jahr 1932 vergingen fast 60 Jahre.
Man kann sagen, dass die Vías Verdes, die 2001 für Spaziergänger, Wanderer, Jogger und Radfah
rer hergerichtet wurden, niemals ihr Grün verloren haben, denn sie trugen niemals die Gleise, die die Alicantiner Wirtschaft jener Zeit so dringend benötigt hätte. Noch nie fuhr ein Zug auf ihnen, obwohl die bedeutenden und teuren Werke des Bauingenieurwesens realisiert wurden – ganze 22 Tunnel und fünf enorme Brücken, die die tiefen Schluchten in den Bergen rund um Alcoy und den Maigmó überspannen. Eine Art Vorgänger des Flughafens von Castellón, könnte man sagen. Die „Sparsamen Vier“erfahren besser nichts davon.
Räder aus Gummi statt Metall
Die Vía Verde des Maigmó – die praktisch die Strecke zwischen Ibi und der verlassenen Bahnstation von Agost umfasst – bietet eine 30 Kilometer lange Spur mit einigen Unterbrechungen, denn es vergingen noch 70 weitere Jahre zwischen dem Ende der Arbeiten und dem Moment, als endlich Räder (aus Gummi, nicht aus Metall) auf ihr rollten und die Epoche der Freizeitaktivitäten der Vía Verde eröffneten. Zeit genug für andere Projekte – Urbanisationen, Straßen und ähnliches – die Strecke zu durchschneiden und ihre Kontinuität zu unterbrechen.
Selbst heute, wenn man sie bergab mit dem Rad Richtung Alicante entlangfährt, bei 35 Grad im Schatten und dem Wind im Gesicht, muss man an die brutalen Anstrengungen der Männer denken, die riesige Abhänge schafften, dafür Tonnen von Erde bewegten und Felsen mit Spitzhacke, Spaten und Dynamitpatronen perforierten. Den Jugendlichen auf dieser Tour ist es schwer zu vermitteln, was die Arbeitswelt bedeutete und wie die Lebensbedingungen eines Arbeiters in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aussahen. Es fällt ebenso schwer, sich vorzustellen, was diese Ingenieure und Arbeiter gedacht hätten, wenn ihnen jemand gesagt hätte, dass ihre Mühen am Ende nur für Fahrräder sein würden.
Es gibt viel, was man den Jugendlichen erzählen kann, wenn sie diese Art von Route das erste Mal fahren: Man kann etwa von der industriellen Archäologie sprechen, zu der die Strecke selbst zählt, von politischen Bewegungen im 20. Jahrhundert (das Hin und Her dieses öffentlichen Baus ist eingebettet in die politische Instabilität Spaniens in jener Zeit) oder von Botanik, denn die Strecke verläuft durch Orte von hohem landschaftlichen und ökologischem Wert.
Reif bei 35 Grad im Schatten
Man kann aber auch über Physik sprechen. So zeigen sich die jungen Leute fasziniert davon, dass nach einem platten Reifen und dem Flicken desselben das Aufpumpen mit kleinen CO2-Pumpen von 16 Gramm geschieht, die nach dem Ablassen ihrer Ladung durch die Druckveränderung so schnell abkühlen, dass sich Trockeneis bildet.
Andere Themen sind die Landwirtschaft und Immigration, wenn die letzten Kilometer vor Agost durch die Plantagen der berühmten Vinalopó-Trauben führen, die Mitte Juli bereits unter ihren typischen weißen Papiertüten reifen, damit ihre Haut geschützt wird. Man braucht Millionen davon, und die Arbeit wird nicht nach Stunden gezahlt, sondern nach der Zahl der angebrachten Tüten. Am Ende jeder Weinstockreihe schreibt die Person, die die Trauben eingepackt hat, ihren Namen und die Menge der Tüten auf. Alle Namen haben ihren Ursprung in Marokko oder Ecuador, denn die Arbeiter aus diesen Ländern schaffen es, drei Mal so viele Tüten über die Trauben zu stülpen als einer von hier.
Das also ist eine Vía Verde, eine anthropisierte Landschaft, eine Welt des Wissens in Sichtweite, während man Sport treibt: in die Pedale treten und unter der Oberfläche kratzen, um zu sehen, was sich dort verbirgt, mit wenigen Menschen drumherum und ohne sich um Sicherheitsabstände kümmern zu müssen, die das Fahrrad von vorneherein festlegt.