Das ist zu packen
Kein Lockdown und Quarantäne – Regionen können Notstand verhängen
Spanien entwickelt sich weiter zum Corona-Sorgenkind. Ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen hält Deutschland eine Reisewarnung für angemessen, aktuell liegt Spanien
bei etwa 86. Trotzdem sieht Ministerpräsident Pedro Sánchez keinen Grund zur Panik und appelliert sowohl an die Vorsicht als auch Gelassenheit der Spanier. Es ist nicht jede Region stark von Corona
betroffen, Andalusien, Valencia und Murcia liegen unter dem Grenzwert. In Krisenherden wird eine Anstrengung notwendig, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Sevilla/Murcia/Alicante – sk. Reisewarnung, steigende Fallzahlen, Rauchverbot, Chaos vor dem Schulanfang – die Lage in Spanien lädt eher zum Davonlaufen als zum Wiederkehren ein. Man muss sich fast wundem, dass Ministerpräsident Pedro Sánchez aus seinem fast drei Wochen währenden Urlaub auf Lanzarote und aus dem Naturpark Doñana zurückkam. Zum Glück brachte der Regierungschef frischen Wind mit.
Über der Psyche des Landes liegt derzeit so etwas wie Mehltau. Die Stimmung ist gedrückt, die Unsicherheit lähmend. Der Zweifel am Sinn einer Batterie von Corona-Maßnahmen wächst. Bisher haben sie alle – von der Maskenpflicht bis zum Rauchverbot – als einzige messbare Ergebnisse steigende Coronavirus-Fallzahlen gebracht. So mancher auf der Straße spricht von einem Blinden, der mit einem Stock wild nach einem Topf schlägt, den er gar nicht sieht.
Ministerpräsident Sánchez hat die Entwicklung der Pandemie unverblümt als „besorgniserregend“bezeichnet. Man müsse ihr mit Vorsicht – „alerta“–, aber eben auch mit „Gelassenheit“begegnen. Sánchez sieht keinen Grund zur Panik. „Wir dürfen nicht zulassen, dass uns das Virus in allen Bereichen dominiert und die Angst uns paralysiert.“Das ist immerhin mal eine Ansage.
Ein weiterer Lockdown steht nicht in der Agenda des Regierungspräsidenten. Und den Unkenrufen nach einer starken Hand und einer abermaligen Konzentration des Krisenmanagements bei der Zentralregierung erteilte Sánchez eine Absage. Die Regionen bleiben in der Verantwortung, sowohl was das Gesundheitswesen betrifft als auch die Bildunghoheit mit Blick auf den herannahenden Schulstart.
Schließlich verläuft die Pandemie in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich. Sollten die dortigen Regierungen zu regionalen oder lokal begrenzten Notstandsregelungen greifen müssen, sicherte Sánchez den Ministerpräsidenten all seine Unterstützung zu. Koordination statt Oberbefehl wünscht sich der Sozialist.
„Notstand heißt nicht Quarantäne. Es gibt viele verschiedene
Arten des Notstands.“Ferner stellte er den Regionen 2.000 Virusfahnder des Militärs zur Verfügung, die Infektionsketten nachverfolgen und brechen sollen. Der Regierungschef kündigte die Einführung der Corona-App an, die bei der Detektion von Infektionsherden helfen und warnen soll, wenn sich Infizierte im sozialen Umfeld befinden.
Die aktuelle Coronavirus-Krise lasse sich nicht mit den Zuständen im Frühjahr vergleichen, als es galt, die Krankenhäuser zu retten. Der Regierungschef stimmte nach der ersten Kabinettssitzung nach der Sommerpause trotzdem das Land darauf ein, mit einer gemeinsamen Anstrengung die Fallkurve umzubiegen. Nach wie vor vertraut Sánchez auf Fernando Simón, den Leiter des Krisenstabs der Pandemie, wie auch auf dessen Fokus auf Massentests, von der andere Länder wie Deutschland wegen des Anteils der falschen Positiven inzwischen abweichen.
Spanien hat in dieser Woche die 400.000 Coronavirus-Infizierten
überschritten. Allein am Dienstag erfasste Spanien 2.415 Infizierte mittels PCR-Test, rund 300 mehr als vor einer Woche und 1.000 mehr als Deutschland.
In den vergangenen Tagen hat Spanien 40.427 Menschen mit einem PCR-Test positiv auf SARSCoV-2 getestet. Damit liegt landesweit binnen einer Woche der Durchschnittswert bei 85,97 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die Bundesrepublik verhängt eine Reisewarnung ab 50. Diese Woche liegen schon zwölf Regionen mitunter weit darüber, andere befinden sich bereits auf dem Weg der Besserung. Die Balearen konnten den Wert beispielsweise von deutlich über 50 auf 32,62 drücken. Der Tourismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Thomas Bareiß, deutete bereits an, die Reisewarnung könnte zumindest für die Balearen bald aufgehoben werden. Andalusien (42,04), die Region Valencia (36,55) und Murcia (37,69) bleiben trotz niedriger Grenzwerte Risikogebiete.
Was die Regierung als wesentlich „besorgniserregender“werten dürfte, ist die steigende Zahl der Neueinweisungen in Krankenhäuser, die in der Woche 1.300 erreicht haben. Binnen sieben Tagen mussten 55 Patienten in Murcia stationär wegen Covid-19 behandelt werden, 180 in Andalusien und 103 in der Region Valencia. Nicht allzu viele, wenn man diese Zahlen mit der Gesamtzahl der Corona-Patienten in den Hospitälern seit Beginn der Pandemie vergleicht, die bei 893 in Murcia, 6.926 in Andalusien und 6.372 in der Region Valencia liegt. Hinzu kommt, dass nur wenige Patienten in der vergangenen Woche eine Behandlung auf Intensivstationen benötigten, in ganz Andalusien sechs, in Murcia zwei und in Valencia vier Patienten.
Potentielle Gefahr für Herbst
Die Virologen sehen in den hohen Fallzahlen aber eine potentielle Gefahr für den Herbst. Derzeit stecken sich vorwiegend junge Menschen in ihrem sozialen Umfeld an, die das Virus aber weitertragen und ältere Personen infizieren können. „Wir hätten nicht gedacht, dass wir diese Werte vor dem Herbst erreichen“, erklärte Fernando Simón, Leiter des sanitären Krisenstabes. In einigen Regionen haben die Infektionsherde auf weite Teile der Bevölkerung übergriffen, sodass man von einer allgemeinen Verbreitung des Coronavirus sprechen muss – was im Hinblick auf den Herbst einer Zeitbombe gleicht.
„Die Zahlen der letzten Wochen sind beunruhigend, noch beunruhigender aber ist das Fehlen einer Strategie“, kritisiert Miguel Hernán, Professor für Epidemilogie der Uni Harvard. „Das Wiederaufleben der Epidemie bedroht aufs Neue das Gesundheitssystem und kann dazu führen, dass auch die Wirtschaftstätigkeit zurückgefahren werden muss. Öffentliches Gesundheitswesen und eine gesunde Wirtschaft gehen Hand in Hand.“Es sei noch „Zeit, eine neue Quarantäne oder die Schließung der Schulen zu vermeiden, wenn man koordiniert vorgeht“, so Hernán. Spanien fehle eine kraftvolle nationale Institution. Es könne nicht sein, dass die meisten Experten ans Gesundheitsministerium in Madrid gebunden seien, während in den Regionen Kapazitäten fehlten.
„Die Verbreitung beschleunigt sich und die Erfassung kommt nicht hinterher. Wir wollten zu schnell in die Normalität zurück“, resümiert Magda Campins, Chefin der Abteilung für Präventivmedizin des Hospital Vall d’Hebron in Barcelona. Auch sie sieht einen „Mangel an Detektion, aber auch, dass ein Teil der Bevölkerung die Sicherheitsmaßnahmen nicht respektiert hat“, als Ursachen an.
Sánchez ruft dazu auf, abermals die Fallkurve umzubiegen