Mit Ranzen und Maske
Vuelta al Cole ab 7. September – Rückkehr zu Präsenzunterricht trotz steigender Corona-Zahlen
Allen Zweifeln zum Trotz: In Spanien fängt die Schule nach der ersten Septemberwoche wieder an, mit allem was zum Unterrichtsbetrieb dazugehört – Klassenunterricht, Schulkantine und Betreuung.
Madrid – sk. Komme was wolle, die Schule fängt nach der ersten Septemberwoche wieder an und mit allem, was zum Unterrichtsbetrieb dazugehört: Klassenunterricht, Schulkantine und Betreuung. Mit dieser Botschaft räumen die Regierung und die Regionalregierungen die Zweifel aus, die in spanischen Haushalten über das neue Schuljahr herrschen. Nur in Ausnahmefällen und bei unkontrollierbaren Ausbreitungen des Coronavirus möchte Spanien die jeweiligen Schulen dichtmachen. Für rund acht Millionen Schüler beginnt nach einem halben Jahr Zwangspause ab 7. September wieder der Ernst des Lebens.
Die Schulen bleiben offen, falls nur einzelne Schüler und/oder Lehrer sich mit dem Coronavirus infizieren sollten. Nur bei „allgemeinen“Ausbreitungen des Virus sollen Lehranstalten geschlossen werden. Nicht für das ganze Schuljahr, sondern „für begrenzte Zeiträume“, sagt Gesundheitsminister Salvador Illa. Die Entscheidung, eine Schule unter Quarantäne zu stellen, obliegt der jeweiligen Regionalregierung.
Bildungsministerin Isabel Celáa riskiert viel. Sie gibt die Marschrichtung Klassenunterricht vor, ohne einen Plan B zu präsentieren. Viele Elternverbände sprechen sich gegen Präsenzunterricht aus, Lehrer drohen mit Streiks. Einige Eltern wollen ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Sollte sich die Coronavirus-Pandemie verschlimmern, dürfte die Ministerin wohl nicht mit dem lapidaren Verweis auf die Schulpflicht von sechs bis 16 Jahren davonkommen. Andererseits setzt das Land damit ein Zeichen der Hoffnung und demonstriert Stärke. Es will sich nicht mehr von Corona sagen lassen, wo es langzugehen hat. Die Botschaft einer Rückkehr in eine gewisse Normalität springt von der Schule aufs Berufsleben über.
Das Abkommen stärkt in erster Linie die Bildungshoheit der Regionen. Der Pakt an sich enthält kaum pädagogische Inhalte. Vielmehr einigen sich Regierung und Regionen auf Coronavirus-Präventivmaßnahmen, die auch dem gesunden Menschenverstand hätten entspringen können. Das häufige Lüften der Klassenzimmer, fünfmal am Schultag Händewaschen und eine allgemeine Maskenpflicht für alle Schüler ab sechs Jahren gehören dazu. Der Unterricht soll so oft wie möglich im Freien stattfinden. „Diese Maßnahmen reichen, um die Sicherheit zu garantieren. Wir brauchen nicht viele Maßnahmen, sondern welche, die erfüllt werden“, sagte Gesundheitsminister Illa. Er macht den reibungslosen Ablauf des Schulbetriebs vom Verhalten der Bürger abhängig.
Die Appelle klingen gut, berücksichtigen aber nicht, dass viele Eltern in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten. Ihrem Kind in einer möglichen Quarantäne zur Seite stehen zu müssen, könnte sie den Job kosten. Die Großeltern können wegen der Infektionsgefahr nicht eingespannt werden. Verantwortungsbewusstsein und das Recht auf Bildung muss man sich leisten können.
Die Eltern müssen nicht – wie zunächst vorgesehen – überall eine Absichtserklärung unterzeichnen, in der sie sich verpflichten, ihre Kinder nur ohne Fieber in den Unterricht zu schicken. Es bleibt den Regionen überlassen, ob sie diese Erklärung einfordern oder nur mit einem Rundschreiben darauf hinweisen, dass Kinder mit Covid-19Symptomen nicht in die Schule gehen dürfen. Die Regierung besteht darauf, dass vorm Unterricht in den Schulen Fieber gemessen wird.
Viele Kinder fürchten sich etwas davor, den ganzen Schultag mit einer Atemschutzmaske verbringen zu müssen. Kinder spielen, rennen, berühren und umarmen sich, sie freuen sich, ihre Klassenkameraden wiederzusehen. All das sollen sie unterdrücken. Für einige Youngsters ist der Gedanke, dass ihre Klassen möglicherweise wegen der Größe neu aufgeteilt werden müssen, ein Drama. Diese auferlegte physische Distanz dürfte auch Lehrern in den Vor- und Grundschulen ihre pädagogische Arbeit erschweren.
Ab der 3. Sekundarstufe (ESO) besteht die Möglichkeit, den dann 14-jährigen Schülern den Stoff online in Kombination mit Präsenzunterricht zu vermitteln. Aus pädagogischen, sozialen und anderen Gründen herrscht Einigkeit darüber, dass Online-Unterricht keine Lösung sein kann. Das Erziehungsministerium hat gar keinen Lehrplan dafür ausgearbeitet, es gibt noch keine Mechanismen, den Online-Unterricht zu kontrollieren und auch kein digitales Unterrichtsmaterial oder fundierte Informationen darüber, wie es um eine flächendeckende Ausstattung mit Computern und Internet steht.
Offen ließen die Politiker auch, ob der Stoff aus dem Vorjahr wiederholt oder der Wissensstand abgefragt wird. Lehrer haben in den Wochen zuvor das vergangene Schuljahr in vielerlei Hinsicht als ein verlorenes bezeichnet. Jetzt wird es möglicherweise ein vergessenes. Viele Lehrer können nicht mit Sicherheit sagen, ob alle Schüler den Online-Klassen gefolgt sind oder sich nur eingeloggt haben und dann einer ganz anderen Tätigkeit nachgegangen sind.
Erziehungsministerin Celáa machte sich vor Monaten für Klassenstärken von nicht mehr als 15 Schülern stark. Es sollen auch feste Gruppen gebildet werden, die stets gemeinsam unterrichtet werden und auch in zugewiesenen Zonen die Pausen verbringen. All dies legt der Pakt nicht in Einzelheiten fest. Die Zentralregierung vertraut auf einen Selbstregulierungsprozess, der mit der Anstellung von mehr Lehrern einsetzen soll. Immerhin schießt Madrid zwei Milliarden Euro in die Regionen.
Eine einheitliche Regelung über Coronavirustests verabschiedeten die Politiker ebenfalls nicht. Gesundheitsminister Salvador Illa hält „flächendeckendes Testen“nicht für sinnvoll und spricht sich dafür aus, nach dem „Sieb-Prinzip“zu verfahren. Letztendlich entscheiden die Regionen, ob und wie sie testen. Der Covid-Beauftragte für jede Schule bleibt im Abkommen außen vor. Damit sollte die medizinische Erstversorgung entlastet werden.
Offen bleibt, ob die Regionen in allen Schulen diesen Posten besetzen und mit wem, mit einer medizinischen Fachkraft, einem CallCenter oder am Ende etwa doch mit dem Sport- oder Mathelehrer. Dabei könnten Probleme auf Schulen zukommen. Kinder haben oft Fieber, sind ständig erkältet. Vor dem Coronavirus gab es Paracetamol und einen Klaps auf den Hintern – und nun? Was, wenn ein Kind mit solchen Symptomen kommt? Was passiert mit seinen Klassenkameraden, mit den Geschwistern und deren Klassenkameraden?
Politiker appellieren an Verantwortung der Eltern, ohne die Realität zu berücksichtigen
Kleiner Wurf oder großer Schritt?
Aus politischer Sicht ist der Pakt eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und nicht mal das, weil das Baskenland ausscherte. Ein kleiner Wurf also, der sich aber auch als ein großer Schritt interpretieren lässt. Bisher hat Spanien in der Bildungspolitik nicht viel zustande gebracht. Kein Staatspakt, kein gutes Schulgesetz. Dieses Abkommen resultiert aus einer Vielzahl von Konferenzen, in denen die Regionen miteinander und mit der Zentralregierung kooperiert haben. Das kann man als ein Fundament sehen, auf dem man etwas aufbauen kann.