Das nasse Grab der Migration
2.000 Menschen sterben 2020 beim Versuch Spanien zu erreichen – Experten fordern Umdenken
Madrid – sk. Über 2.000 Migranten aus Nordafrika sind 2020 beim Versuch ums Leben gekommen, über den Seeweg Spanien zu erreichen. Laut der Hilfsorganisation Caminando Fronteras starben 2.170 Bootsflüchtlinge entweder im Mittelmeer oder im Atlantik – mehr als doppelt so viele als die 2019 erfassten 893 Opfer. Für den tragischen Anstieg machen Experten die veränderten Flüchtlingsrouten verantwortlich.
Wegen der strenger kontrollierten Seewege über das Mittelmeer wählten mehr Migranten den gefährlicheren und mit 1.600 Kilometern längeren Weg aus dem Senegal über den Atlantik zu den Kanarischen Inseln. Dort kamen 2020 laut aktuellen Daten des Innenministeriums 23.023 Migranten an, rund achtmal mehr als 2019. Diese Verschiebung der Routen dürfte die Madrider Regierung nicht überrascht haben. Womit sie nicht rechnen konnte, war, dass aufgrund der Coronavirus-Krise viel mehr Nordafrikaner in See stachen und sich ihre Abschiebung ob geschlossener Grenzen als so schwierig gestalten würde. Derzeit leben etwa 7.000 Migranten in touristischen Anlagen auf den Kanaren.
Über 50 Prozent stammten aus dem Maghreb, vorwiegend aus Marokko. Bei den Angaben handelt es sich um Dunkelziffern. Laut der Internationalen Organisation für Migration, IOM, stirbt auf der Atlantikroute schätzungsweise jeder 16. Flüchtling.
Kein europäisches Land nahm 2020 so viele irreguläre Flüchtlinge auf wie Spanien. Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten
Nationen Acnur beziffert die Zahl der Migranten, die 2020 auf dem See-und Landweg Spanien erreichten, auf 41.000, was einem Anstieg von 30 Prozent im Vergleich zum
Die meisten Immigranten kommen aus Südamerika nach Spanien
Vorjahr entspricht. Italien erreichten demnach 34.100 Flüchtlinge und Griechenland 15.500.
Die Kanaren gelten keineswegs als der einzige Brennpunkt in der Flüchtlingskrise, die sich wegen der Pandemie zugespitzt hat. Schätzungen zufolge erreichten von Algerien aus über 11.200 Migranten die Balearen, die Küste von Alicante, Murcia, Almería und Granada. Noch nie hat die europäische Agentur für Grenzschutz, Frontex, eine so hohe Zahl erfasst. Der bisherige Rekord in den seit 2009 geführten Statistiken liegt bei 4.300 Algeriern im Jahr 2018.
Dennoch handelt es sich bei den Bootsflüchtlingen um eine Randerscheinung in dem breiten Spektrum der spanischen Einwanderung. Derzeit leben fast sechs Millionen Einwanderer regulär in Spanien, vorwiegend stammen sie aus Südamerika. Die meisten der 84.264 beantragten Asylgesuche stellten nicht Flüchtlinge aus
Nordafrika, sondern aus Venezuela, Honduras und Kolumbien.
Neue Perspektive erforderlich
„Wir müssen das Phänomen der Einwanderung als strukturelle Erscheinung begreifen und nicht als eine Krise oder Notsituation“, so der Einwanderungsexperte Fabra Lorenzo Gabrielli von der Universidad Pompeu. Das würde den Weg zu einer pragmatischeren Einwanderungspolitik öffnen, Visen könnten flexibler erteilt, die Zirkulation flüssiger gesteuert und die Gefahr reduziert werden. „Immigration darf keine Frage der Sicherheit sein, wir müssen die Debatte von einer anderen Perspektive aus führen.“