Die dritte Welle
Nach den Festtagen die Infektionen: Corona-Pandemie grassiert in Spanien
Das Coronavirus breitet sich rasend schnell aus. Binnen 14 Tagen hat sich die 14-Tages-Inzidenz verdreifacht, die Zahl der Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern hat sich seit Weihnachten verdoppelt. Die Pandemie ist auch in einigen Küstenregionen außer Kontrolle geraten. Die Region Murcia hat 36 von 45 Kommunen abgeriegelt. Die Coronavirus-Ausbrüche in der Region Valencia lassen sich nicht mehr nachvollziehen. Auf den Balearen sind tiefgreifende Restriktionen in Kraft getreten, die Demonstrationen auf Mallorca ausgelöst haben. Die negative Entwicklung hat auch Málaga und Almería ergriffen und Portugal hat den Lockdown verhängt.
Der Chef des Sanitären Krisenstabes der spanischen Regierung, Fernando Simón, erklärte Anfang der Woche wie immer nüchtern und klar, warum die Corona-Zahlen in Spanien wieder so dramatisch steigen: „Wir ließen es uns zu Weihnachten wohl besser gehen als wir sollten“. Daher „werden wir einige harte Wochen vor uns haben“. Formeln, die schon fast zur Routine geworden sind. Laut Simón sind auch nicht die ansteckenderen Mutationen Schuld an dem Anstieg, „sondern nur unser Verhalten“. Es hat ein Gewöhnungseffekt eingesetzt, der Mensch nimmt fast zwangsläufig hin, was er scheinbar nicht ändern kann.
Auch Gesundheitsminister Salvador Illa referiert fast gleichgültig scheinend, dass „Spanien ja nun wisse, wie man die Kurve gebogen bekommt“, daher sei auch keine häusliche Quarantäne nötig, obwohl angesichts der Zahlen immer mehr Experten dringend dazu raten. „Wir werden schlimmere Zahlen haben als in der zweiten Welle. Zwar verläuft der Anstieg der Zahl der Intensivpatienten stufenweiser als zuvor, was uns mehr Vorbereitungszeit gibt, aber die absoluten Zahlen werden am Ende höher liegen“, prognostiziert einer, der es wirklich wissen muss: Ricard Ferrer, Chefarzt der Abteilung für Intensivmedizin am Hospital Vall d’Hebron in Barcelona und gleichzeitig Präsident der Spanischen Gesellschaft für Intensivmedizin.
Und Daniel López-Acuña, ehemaliger Direktor der Weltgesundheitsorganisation für Notfallsituationen, spricht in „El País“von einer „sehr schlechten Situation, die sich noch weiter verschlechtert, auch wenn das durch die laxen Maßnahmen zu Weihnachten zu erwarten war. Es gab enorme Übertragungen und in ein paar
Wochen werden wir das in den Krankenhäusern zu spüren bekommen“, so Acuña, der erst für den 30. Januar oder später mit der höchsten Inzidenz rechnet und zwei Wochen darauf mit der Spitze in den Hospitälern.
Die zwar warnenden, aber beileibe nicht alarmierenden Anmerkungen von Gesundheitsminister Salvador Illa nehmen sich gegen die Darstellungen der Fachleute fast verniedlichend aus. Der Minister sieht sich ohnehin mit wachsenden Vorwürfen konfrontiert, er sei nur noch halb bei der Corona-Sache, seit ihn sein PSOE-Parteichef, Premier Pedro Sánchez, zum Spitzenkandidaten für die Regionalwahlen in Katalonien gemacht hat. Der Minister erklärte zwar, „ich bin zu 101 Prozent mit der Coronavirus-Pandemie befasst“, was sich auch nicht ändern werde, „bis die Wahlkampagne in Katalonien anläuft“.
Die rechte Opposition kauft ihm das aber nicht ab und dreht den Spieß um, wie sie es gerade braucht. Forderten PP und Vox bis dato regelmäßig den Rücktritt eines aus ihrer Sicht stets überforderten Ministers, verlangen sie nun, er solle auf seine Ambitionen in Katalonien verzichten und „seinen Job machen“. Den gleichen Job, für den er zuvor noch unfähig gewesen sein soll.
Filomena als Zusatzbelastung
Die Zahlen der „dritten Welle“sind schon jetzt dramatisch, auch wenn der klinische Höhepunkt der „Festtagsinfektionen“erst für Mitte Februar erwartet wird. Eigentlich wäre hier kein Platz für Politikerstreit. Die Dynamik der Entwicklungen in Spanien – wie übrigens in vielen Teilen Europas – hat das Potential, die erste und zweite Welle in einigen Regionen hinsichtlich Krankenhausbelegungen und Todesfällen noch in den Schatten zu stellen. So hat sich die 14-Tage-Inzidenz binnen eines Monats landesweit mehr als verdreifacht, die Zahl der stationären Patienten stieg seit Weihnachten um 64, jene der Intensivpatienten um 40 Prozent.
Am Dienstag, 12. Januar, meldet das Gesundheitsministerium schon wieder über 400 Tote binnen 24 Stunden (mehr aktuelle Zahlen siehe Kasten), vor Weihnachten war diese Zahl über mehrere Wochen zweistellig. Die meisten Menschen starben in der letzten Woche in der Region Valencia (189), Andalusien mit mehr als doppelt so vielen Einwohnern meldete im gleichen Zeitraum „nur“60 Tote und ein Drittel der 14-Tage-Inzidenz.
Allerdings hat Spanien lernen müssen, dass keine Region vor den „Wellen“oder vor Corona insgesamt sicher ist. Das Virus sucht sich neben den Gelegenheiten auch die passende Zeit, um über die Menschen herzufallen. So dürfte klar sein, dass diese dritte Welle ganz Spanien früher oder später hart treffen wird. Die Auslastung der Intensivstationen in Madrid lag am 11. Januar bei 35 Prozent, die Krankenhäuser in Zentralspanien werden zudem noch mit massenweisen Unfallopfern aufgrund der Schneeglätte belastet. Das Unwet
„Wir werden schlimmere Zahlen haben als in der zweiten Welle“
ter Filomena hatte die tückische Eigenschaft, es erst kräftig schneien, dann kurz antauen und danach nochmals stark gefrieren zu lassen. Umstände, mit denen die in Winterunbill meist ungeübten Spanier notorisch überfordert wurden. Knochenbrüche im Dutzend waren die Folge und damit die Bindung von viel Personal. Patienten konnten nicht mehr entlassen werden, einige, aber auch Spenderblut und Medikamente, wurden mit Allrad-Wagen transportiert, wenn überhaupt.
Schon wieder improvisieren
Mit über 40 Prozent Auslastung allein mit Covid-Patienten erreichten die UCIs in Katalonien, auf den Balearen und in der Region Valencia bereits wieder kritische Werte, wohlgemerkt noch vor dem erwarteten Höhepunkt der neuen Welle. Was diese dritte Welle so gefährlich macht, an einem Beispiel: Die Region Valencia liefert derzeit mit 33 Prozent den höchsten Anteil positiver Tests in ganz Spanien, was auf eine baldige Zunahme der Hospitalisierungen hinweist. Dabei sind viele Spitäler schon jetzt am Anschlag: Die Krankenhäuser entlang der Costa Blanca beginnen bereits zu improvisieren: Das Hospital in Elche wandelte die Hauskapelle zur Krankenstation um, OP-Säle in Orihuela werden zu Intensivstationen und Torrevieja verwandelt „normale“Stationen zu Isolier- und Reservestationen für die steigenden Covid-Fälle. In Valencia werden sogar die Zeltlazarette wieder aktiviert. Das alles hatten wir schon einmal in der ersten Infektionswelle aber auf ihrem Höhepunkt.
Spätestens mit der zweiten Welle konnte man zudem ein mediales und wohl auch menschliches Phänomen beobachten. Die Menschen starben wegen Covid, ohne dass davon über die reine Zahl hinaus noch viel Notiz genommen wurde. Denn die Patienten haben das Pech, dann vermehrt zu sterben, wenn die jeweilige „Welle“der Infektionen bereits wieder am Abklingen ist und Medien wie Politik daher positive Nachrichten verbreiten wollen.
Hilflose Nachjustierungen
Nicht nur bei der emotionalen Verarbeitung der Pandemie, der Kommunikation der Zahlen und den Phrasen der Politiker hat ein Gewohnheitseffekt eingesetzt, der zu gefährlichem Schlendrian verleitet. Denn bei den Restriktionen üben sich Regionen und Gemeinden mittlerweile häufig in Routine. Die Autonomen Gemeinschaften justieren die Einschränkungen gemäß der vorliegenden Zahlen, womit sie naturgemäß immer zu spät kommen. So schließen die Balearen jetzt einmal wieder die Gastronomie, in anderen Regionen wie den Kastiliens wird sie auf die Terrassen und „To Go“beschränkt. Valencia hat die Zeitfenster verengt, die Sperrstunden und Ausgangssperren ausgeweitet, um private Partys zu verhindern, den Leuten das Feierabendbier zu verleiden, den Gastronomen das Geschäft aber nicht ganz abzudrehen.
Die Branche leidet neben dem nun bald ein Jahr andauernden Umsatzeinbruch vor allem durch die völlige Ungewissheit. Mal dürfen sie ein bisschen mehr öffnen, dann müssen sie von heute auf morgen wieder schließen, planen kann so kein Mensch, auch kein noch so ausgebuffter Wirt. Auf Mallorca demonstrieren die Wirte mal wieder mit Protesttransparenten, in Alicante bereiten sie eine Schadensersatzklage gegen die Landesregierung vor. Es wäre ehrlicher und epidemiologisch sinnvoller, die Lokale alle zu schließen und Angestellte und Eigner auf ein Grundeinkommen zu setzen bis das Gröbste überstanden ist.
Angesichts des steilen Anstiegs der Zahlen fragen sich die Spanier, ob ein erneuter häuslicher Einschluss und ein Lockdown wie im März 2020 zu befürchten steht. Leisten kann sich das Land den nach ökonomischen Kriterien nicht. Die Frage bleibt, wie hoch eine Zivilisation den Preis für ein Menschenleben ansetzt, aber auch, wie konsequent sie dann formulierte Ziele umsetzt.
Valencias Regionalchef Ximo Puig warnte diese Woche erneut vor „bulos“, also bösartigen Gerüchten, er hätte den Einschluss seiner Bürger schon geplant. Das darf er gar nicht, für eine häusliche Quarantäne bräuchte es einen erweiterten Notstand von Seiten des Regierungschefs. Die regionalen
Kompetenzen sind auf das Absperren von Gemeinden, kleinstenfalls Stadtvierteln begrenzt.
Die Impfkampagne ist hingegen immer noch in der Anlaufphase und noch lange davon entfernt, der Pandemie Paroli bieten zu können. Bis Montag hatten 406.000 Personen in Spanien ihre erste Dosis erhalten, also noch unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Begonnen hatte die Kampagne am 27. Dezember. Würden die Impfungen in diesem Tempo weitergehen, würde es rund zwei Jahre dauern, bis die Durchimpfung die erwünschten 70 Prozent erreichte.
Impfgegnerin Filomena
Das Schneechaos in Madrid hatte zudem die Landung von Impfdosen verzögert, die nun vom Airport von Vitoria im Baskenland auf dem Straßenweg zu den Verteilzentren in der Hauptstadt transportiert werden müssen. Tagelang waren zudem Hospitäler und Gesundheitszentren in Spaniens Zentralregion von der Außenwelt weitgehend für Impfkundschaft abgeschlossen.
Die nächste Hürde ist die Umsetzung der Impfung selbst, so wurde im Schnitt bisher nur rund die Hälfte der ausgelieferten Impfdosen in den Regionen verabreicht, weil Personal und dezentrale Lagerlogistik begrenzt und ausgelastet sind und man lieber die vitale zweite Impfdosis auf Reserve hält. Die Impfung wird im Wesentlichen vom gleichen Gesundheitspersonal umgesetzt, das seit März bereits an und über der physischen und psychischen Belastungsgrenze arbeitet.
Höhere Liefermengen und neu zugelassene Impfstoffe sollen in den nächsten Monaten die Impffrequenz erhöhen. Die Hoffnung ist, dass der entlastende Effekt durch die Immunisierung Spanien wie ganz Europa zumindest den Sommer rettet und so etwas Ähnliches wie ein normales Leben ermöglicht. Bis dahin steht dem Land aber eine sehr schwere Zeit bevor.
Gewohnheitseffekte verleiten zu gefährlichem Schlendrian