Costa del Sol Nachrichten

Wiege des Flamenco

Cádiz blickt auf eine lange Tradition des Flamenco zurück – Ein Blick ins Musiker-Viertel Barrio Santa María

- Lena Kuder Cádiz

Ein silbriger Nebelschwe­if liegt über der „Tacita de Plata“– dem Silbertäss­chen, der Kosename für die fasziniere­nde Stadt Cádiz. Im Februar locken sonst die frivolen Texte der Chirigota-Sänger Karnevalsg­ruppen in die Stadt. Cádiz ist gemeinhin eher bekannt für den Karneval, der ohne Corona sonst dafür sorgt, dass sich jedes Jahr Mitte Februar die Straßen und Bars der Provinzhau­ptstadt mit Necken füllen. In den Straßen sind an diesem Februarmor­gen aber nur maskierte Straßenfeg­er und Abuelitas mit Einkaufstr­olleys zu sehen.

Es kommt einem in den Sinn, dass eine der Ikonen des Flamenco, José Monje Cruz, bekannt als Camarón de la Isla, aus dem benachbart­en San Fernando stammte. Doch gemeinhin denkt man beim Wort Flamenco eher an seine Wiege, Jerez de la Frontera, oder an Sevilla mit dem Viertel Triana und dem Museum für Flamencota­nz.

Dabei hat auch die rund 115.400-Einwohner zählende Stadt Cádiz – deren Hafen aufgrund der im barocken und neoklassiz­istischen Stil erbauten Häuser an jenen von Havanna erinnert – solche Flamenco-Größen wie La Perla de Cádiz oder den FlamencoFu­sion-Sänger José Luis „Selu“Figuereo Franco alias El Barrio hervorgebr­acht.

Davon weiß der Präsident der Nachbarsch­aftsverein­igung Tres Torres des Barrio Santa María, José Rodríguez, ein Lied zu singen. Mit eingezogen­en Schultern sitzt er in seinem winzigen Büro und diskutiert mit einem Anwohner über ein für ihn missverstä­ndliches Formular. Rodríguez hat ein schweres Herz, nicht nur, weil er vor zwei Wochen einen Herzinfark­t erlitten hat, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Er wirkt wie aus einer anderen Zeit, wie jemand, der einen Schatz verwaltet, von dem er weiß, dass die besten Perlen und Geschmeide längst gestohlen wurden und nur noch ein paar schäbige Kupfermünz­en übrig sind. An den Wänden des Veranstalt­ungssaals der Nachbarsch­aftsverein­igung zeugen Fotos von Camarón de la Isla und eine Widmung von Francisco Torres Tejadas, bekannt als Curro la Gamba, davon, dass hier einst mit den Füßen aufgestamp­ft, die Arme in die Luft gerissen und der Takt mit den Palmas (Handfläche­n) geklatscht wurde.

Heute gibt es hier Yoga, Zumba und ab und zu auch Gitarrenun­d Flamenco-Tanzunterr­icht. Gelegentli­ch werden Konferenze­n zum Thema Flamenco organisier­t.

Rodríguez ist im Barrio Santa María geboren und kennt das Viertel wie seine Westentasc­he. Er holt tief Luft und sagt mit ausdrucksl­oser Miene: „Früher lebten rund 11.000 Personen in dem Viertel, heute sind es nur 3.800. Jeder kannte jeden. Heute ist das anders, keiner weiß mehr, wer nebenan im Haus wohnt.“Zusammen mit einem Sozialarbe­iter versorgen zurzeit Freiwillig­e der Nachbarsch­aftsverein­igung 80 bedürftige Familien im Barrio Santa María. Rodríguez war mit der Sängerin Antonia Antonia Gilabert Vargas „La Perla de Cádiz“gut befreundet. In ihrem Haus habe es oft Juergas (private Zusammenkü­nfte, bei denen oft bis zum Morgengrau­en getanzt und musiziert wird) mit Gitanos aus der Nachbarsch­aft gegeben.

„Ich habe in einem Haus mit mehreren Etagen und Innenhöfen gewohnt“, erzählt er. „Dort lebten viele Familien zusammen, die sich gegenseiti­g halfen. Jeden Morgen bin ich mit 26 anderen Kindern zur Schule gegangen.“Von der Essenz des Flamenco aus dieser Zeit sei im Barrio Santa María wenig übriggebli­eben. Viele seien weggezogen und die älteren Flamencomu­siker verstorben. In der Calle Botica 29 wurde am 4. Juni 1970 „El Barrio“geboren. Rodríguez kennt ihn und seine Eltern gut. „Das Haus war als Casa de los tres patios (dt.: Haus mit drei Innenhöfen) bekannt“, erzählt er. Seit 1992 wird das Viertel saniert. In El Barrios Geburtshau­s sollen nun 15 Sozialwohn­ungen entstehen.

Von der Essenz des Flamenco ist im Barrio Santa María wenig übriggebli­eben

„Ich selbst kann nicht singen, aber der Flamenco-Gesang gefällt mir sehr gut“, unterstrei­cht der Gaditano. „Mein Favorit ist Caracol.“Im Saal der Nachbarsch­aftsverein­igung sind Flamenco-Sänger aufgetrete­n, die die Flamenco-Stile Fandango und Zambra des aus Sevilla stammenden Sängers Manuel Ortega Juárez alias Manolo Caracol gesungen haben.

Vom Tanz zum Gesang

Und auch heute gebe es in Cádiz noch ein paar Künstler, die seine Lieder interpreti­eren. Ein paar Straßenzüg­e weiter weist eine Skulptur des Flamenco-Sängers Chano Lobato auf das daneben gelegene Centro Municipal de Arte Flamenco La Merced hin. Vor dem Eingang steht eine zierliche Frau und raucht. Sie spricht mit ihrem Kollegen über ihre Auftritte in einem kleinen Tablao (Flamenco-Lokal) in der Altstadt: „Viele Zuschauer passen da mit Sicherheit­sabstand nicht rein. Aber was soll ich machen? Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich bin alleinerzi­ehend und kann es mir nicht leisten, deprimiert zu sein. Wenn ich zusammenbr­eche, bricht das bisschen zusammen, das ich für mich und meinen Sohn aufgebaut habe.“

Aus dem Inneren ist energische­s Fußstampfe­n zu hören. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Flamenco-Sängern und -Sängerinne­n sowie Flamenco-Gitarriste­n.

Auch die Sängerin María del Mar Fernández, die ebenfalls im

Barrio Santa María aufgewachs­en ist, probt hier regelmäßig für ihre Auftritte. Per Zufall ist sie zum Gesang gekommen. Ursprüngli­ch war sie in einer Flamenco-Tanzgruppe. „Bei uns zu Hause lief die ganze Zeit Flamenco im Radio und meine Eltern sind Flamenco-Fans“, sagt Fernández. „Diese

Musik hat mich in einer ganz besonderen Weise berührt.“

Zunächst lernte sie die Flamenco-Tanzschrit­te in einer Akademie und nahm Gesangsunt­erricht bei der Flamenco-Sängerin Gema Jiménez in der ehemaligen Peña Flamenca La Perla im Stadtteil Santo Domingo. „Ich war sehr schüchtern, deshalb sang ich meistens nur zu Hause“, sagt Fernández. „Es gibt Videos, auf denen ich als Vierjährig­e Fandangos singe. Mir gefiel es, FlamencoSt­ars zu imitieren, Witze zu erzählen oder mit meinem Fächer so wie Lola Flores zu wedeln.“ (die schnellste und womöglich schwierigs­te Stilrichtu­ng des Flamenco). Ihr Vater nahm diesen ersten Auftritt mit einer Videokamer­a auf Kassette auf. „Die Nachbarn sagten sofort: ‚Wie gut das Kind doch singt‘“, erinnert sich die Sängerin.

Bei den Auftritten mit ihrer Flamenco-Tanzgruppe forderten sie die Musiker immer wieder auf, mitzusinge­n. Seitdem trat sie regelmäßig in der Peña Flamenca La Perla und in verschiede­nen Tablaos auf. Es folgten Theaterins­zenierunge­n und Flamenco-Festivals. „Auch Chano Lobato hat mich in der Provinzver­waltung von Cádiz vorgestell­t“, sagt sie. „Er hat eine Art Patenschaf­t für mich übernommen. Seitdem sind wir oft bei einem Konzert hintereina­nder aufgetrete­n.“María del Mar Fernández habe sich immer wieder die Videokasse­tten mit Auftritten der Perla de Cádiz, Chano Lobato, Pericón de Cádiz und Mariana de Cádiz angeschaut, um diese Ära Revue passieren zu lassen.

In der Semana Santa zieht die Gründonner­stag-Prozession stets am Haus von El Barrio in der Calle Botica 29 vorbei. „Wir haben uns vor dem Haus aufgestell­t und an der Seite von Tío Gineto getanzt und gesungen. Sein Repertoire war klein, aber dafür sehr originell. Auch El Barrio kam jedes Mal dazu, um Gitarre zu spielen und mit uns zu singen“, erinnert sich Fernández an die Tage des Nazareno. „El Barrio habe ich nur einige Male getroffen, denn er ist ja genauso wie ich ständig auf Tournee“, sagt die Künstlerin.

In der Tanzakadem­ie habe Fernández einen Tanguillo (einer der variantenr­eichsten Flamenco-Stile) zu einem Lied von El Barrio einstudier­t. Ihr Vater sei gut mit ihm befreundet und so sei El Barrio eines Tages mit seiner Gitarre zu ihr nach Hause gekommen, um das Lied für sie zu spielen. Fernández hat die goldene Ära des Barrio Santa María zwar nicht miterlebt. Sie erinnert sich aber daran, dass die Bewohner dieses Viertels sich gegenseiti­g halfen und auch oft ihre Mahlzeiten teilten, denn in dem Viertel wohnten viele arme Familien. Die Bewohner lebten Tür an Tür so wie in einer großen Familie.

Durch Erzählunge­n ihrer Großmutter weiß sie, dass die Menschen oft in den Patios zu Juergas zusammenka­men. „Ein dampfender Eintopf und ein paar Flaschen Wein reichten aus und schon sangen und tanzten alle. Es waren bescheiden­e,

spontane Feste“, erzählt die Flamencosä­ngerin. „Die Menschen teilten jeden Tag das, was sie hatten. Es musste keinen besonderen Anlass für eine Feier geben. Wie gern hätte ich diese Zeit miterlebt“, meint die Gaditana

María del Mar Fernández schließt die Augen, klatscht sanft in die Hände und intoniert eine Bulería. Farbtöne ihres Gesangs erfüllen den Raum, sie versetzt den Zuhörer 20 Jahre zurück, mitten in einen dieser Patios. Ein dampfender Linseneint­opf und Gitarrenkl­ang tauchen vor dem geistigen Auge auf. Draußen hat sich der Nebel gelichtet, die Tacita de Plata erscheint in einem anderen Licht, poliert und muy flamenco, olé!

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Cádiz wird oft eher mit dem Karneval in Verbindung gebracht. Dabei blickt die Stadt auf eine lange Tradition des Flamenco zurück. Das Barrio Santa María hat bekannte Flamencosä­nger und -tänzer hervorgebr­acht.
Foto: Alberto Martín/dpa Cádiz wird oft eher mit dem Karneval in Verbindung gebracht. Dabei blickt die Stadt auf eine lange Tradition des Flamenco zurück. Das Barrio Santa María hat bekannte Flamencosä­nger und -tänzer hervorgebr­acht.
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Fotos: Lena Kuder Flamenco in Schwarz-Weiß: Fotos an der Außenwand des Centro de Municipal de Arte Flamenco in Cádiz.
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 ??  ?? Flamenco im Blut: María del Mar Fernández singt seit ihrem achten Lebensjahr.
Flamenco im Blut: María del Mar Fernández singt seit ihrem achten Lebensjahr.
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Eines Tages lud ihr Vater Nachbarn ein und bat seine achtjährig­e Tochter zu singen. Einer der Nachbarn spielte Gitarre und Fernández sang eine Bulería
Eintopf, Wein und Gesang Eines Tages lud ihr Vater Nachbarn ein und bat seine achtjährig­e Tochter zu singen. Einer der Nachbarn spielte Gitarre und Fernández sang eine Bulería
 ??  ?? Eines der Fotos zeigt die Flamenco-Tänzerin Patricia Guerrero.
Eines der Fotos zeigt die Flamenco-Tänzerin Patricia Guerrero.

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