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Bub oder Mädel

Spanien streitet um neues Geschlecht­s-Gesetz – Transsexua­lität verstehen: Gespräche mit Betroffene­n und einer Mutter

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Spanien streitet über das Ley Trans, ein Gesetz zur Gleichstel­lung von transsexue­llen Menschen. Was Betroffene und ihre Familien zu der Debatte zu sagen haben.

Stefan Wieczorek Valencia

„¿Es chico o chica?“Beginnen wir diesen Text im Muttertags-Monat Mai mit dieser Frage, die jede Mutter bestens kennt. „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“Lange bevor das Kind das Licht der Welt erblickt, erwartet das Umfeld bereits mit Spannung die mütterlich­e Antwort. Eine fundamenta­le Antwort, so scheint es, für die ureigene Identität des Menschen.

„¿Es chico o chica?“Auch María Sánchez Muñoz aus Torre de la Horadada kennt die Frage sehr gut, als zweifache Mutter. Nur hat sie ein besonderes Verhältnis zu der Antwort. „Chica“, Mädchen, lautete diese noch bei ihren beiden Schwangers­chaften. Jetzt aber nicht mehr. Denn ihr älteres Kind wurde im Körper eines Mädchens geboren, ist aber ein Junge.

Das spürte Iker schon im Kindergart­en. Heute, mit zwölf Jahren, sieht er es, wenn er zufrieden in den Spiegel schaut, mit Jungenklam­otten und fescher Kurzhaarfr­isur. Doch das Körperlich­e macht sich bemerkbar. Die Pubertät beginnt.

Um ein Junge zu bleiben, müssen weibliche Hormone gestoppt, männliche verabreich­t werden. Ein harter Weg erwartet ihn. Aber Iker, ein auffallend zielstrebi­ges Kind, will ihn gehen. Gemeinsam mit der Familie, gemeinsam mit Mama.

„¿Es chico o chica?“Auch Irene Montero (Podemos) kennt die Frage gut. Eine Mama dreier Kinder ist Spaniens junge Gleichstel­lungsminis­terin

und die Stimme einer neuen Geschlecht­skultur.

Erdbeben im Regierungs­pakt

Neulich, im Wahlkampf in Madrid, beließ die Linksalter­native es nicht bei „Jungen und Mädchen“, sondern sprach von „niñas, niños, niñes“, oder „hijas, hijos, hijes“. Also jeweils „Kinder“, aber nicht in zwei Geschlecht­ern, sondern auch mit dem neutralen „e“, sozusagen Spaniens inoffiziel­lem Genderster­n.

Auf diese Weise bewarb Montero ihr „Gesetz für tatsächlic­he und effektive Gleichstel­lung von Transgende­r-Personen“, kurz „Ley Trans“(Trans-Gesetz). Ein Gesetz, das in Sachen Trans-Rechten einen enormen Schritt nach vorn tut.

Ohne Gutachten von Experten, ohne Behandlung könnte jeder ab 16 Jahren offiziell das gefühlte Geschlecht für sich eintragen lassen oder es ganz streichen. Eine amtliche Erklärung würde reichen. In Spanien sorgte der Entwurf in LGTBI-Kreisen für Jubel, aber ansonsten auch für Empörung und das nicht nur von konservati­ver Seite.

Am größten war der Aufschrei von Feministin­nen, die ihren Kampf für Frauenrech­te durch das Trans-Gesetz ausgehebel­t sehen (Hintergrun­d siehe Kasten). Selbst die Zentralreg­ierung droht deshalb zu scheitern. Denn eine eiserne Feindin des Gesetzes ist eine weitere Mutter in der Politik ausgerechn­et Spaniens Vizeregier­ungschefin Carmen Calvo (PSOE).

„¿Es chico o chica?“Später als etwa Iker erkannte Allan Segura, dass er nicht das Mädchen war, nach dem sein Körper aussah. Erst als Teenager wurde es dem heute 23-Jährigen aus Benidorm klar: „Ich war mit anderen Jugendlich­en auf einer Kirmes. Da zeigte einer auf einen Jungen und sagte: Seht mal, der da will ein Mädchen sein.“Der Satz überfuhr Segura.

Nie hatte das brave Kind von der Nonnenschu­le gedacht, dass die Option einer Geschlecht­sanpassung existierte. Dabei hatte Segura längst mit dem Körper gefremdelt, ihn lieber in SchlabberK­lamotten versteckt als hervorgeho­ben wie die Mitschüler­innen.

Schon als Kind hatte es Anhaltspun­kte für die Unstimmigk­eit von Körper und Identität gegeben, das hatte auch seine Mutter gemerkt. Aber es blieb ein Tabu. Ein Schlag für den Jugendlich­en war die erste Monatsblut­ung. Ein Schmerzens­drama, sowieso. Aber im fremden Körper: Ein Desaster.

„Das Gesetz ist superwicht­ig“, sagt Segura. „Es vereinheit­licht die Regelungen für Trans-Menschen in Spanien. In jeder Region bekommen sie die gleichen Chancen.“

Die brutale Erfahrung

Er selbst schwamm auf der Welle des Trans-Gesetzes 2017 im Land Valencia, das nicht nur für Spaniens „Ley Trans“als Vorbild gilt. Sondern auch der Weltgesund­heitsorgan­isation damit zuvorkam (2019), Transsexua­lität nicht mehr als Pathologie zu definieren. Meilenstei­ne gegen die Transphobi­e seien es, lobt Allan Segura.

Mit 18 war der Umzug nach Valencia für ihn die Zäsur zum neuen Leben: Erst die Hormone, dann die Operation zur Abnahme der Brüste. „Eine brutale Erfahrung“, sagt Segura. „Aber es war, wie neugeboren zu werden.“Stolz präsentier­t der junge Mann beim Treffen Muskeln und Körperbau.

Gern sehe er nun in den Spiegel, wolle gar als Unterhosen­model arbeiten. Als studierter Sozialarbe­iter und Trans-Aktivist erlernte er das neue Selbstbewu­sstsein, das er auch als Internet-Influencer auslebt: mit seinem Freund Carlos als „Zip y Zap“auf Tiktok. „Er ist ein Cisgender- ich ein Transgende­r

„Nehmen wir an, mein Onkel verliert den Penis bei einem Unfall. Ist er dann kein Mann mehr?“

Schwuler“, erklärt Segura. Cisgender: Das sind Menschen, deren gefühltes und biologisch­es Geschlecht übereinsti­mmen. Quasi das Gegenteil von Trans. „Eigentlich sind wir beiden, angesichts unserer früheren Beziehunge­n, auch Bisexuelle. Jetzt leben wir aber eine homosexuel­le Beziehung.“

Auf fröhliche Weise kommentier­t das Paar in peppigen Videos homo-feindliche Tweets, lächelnd und küssend. Auf Hass mit Hass antworten wollen sie nicht. Als ein User postet: „Du bist mit einer Frau mit Bart zusammen“, empfiehlt Carlos ihm eine Augen-OP.

„Im Alltag habe ich Transphobi­e zum Glück noch nie erlebt“, sagt Segura. Höchstens dachte man in einem Laden, bei dem er sich bewarb, er habe den Ausweis seiner Schwester vorgelegt. Selbst an seiner früheren katholisch­en Schule ginge er gern ein und aus. „Die Nonnen sind sehr lieb zu mir. Weil sie sehen, dass ich glücklich bin.“

Jenseits von Autos und Puppen

Eine eher leichte Transforma­tion erlaubte Segura sein früherer Körper: Kleine Brüste, deren Abnahme keine Narben hinterließ. „Nur an den Hüften musste ich hart arbeiten, um sie verschwind­en zu lassen.“Einen Penis habe er nicht. „Der Eingriff ist hier nicht so sicher wie eine künstliche Vagina.“

Doch der vermeintli­che Mangel sei ihm nicht wichtig. „Erstens ist vielen nicht bekannt, dass die Klitoris wie ein Mikropenis fungieren kann. Zweitens: Ist der Penis das

Hauptmerkm­al des Mannes? Nehmen wir an, mein Onkel verliert seinen Penis bei einem Unfall. Hört er dann auf, Mann zu sein?“

Als wortgewand­ter Aktivist tingelt Segura nun durch Schulen, um vom Trans-Leben zu berichten und mit Argumenten Vorurteile zu besiegen. Seine Beziehungs­erfahrunge­n mit Carlos wolle er gar im Buch niederschr­eiben. „Sichtbar machen“wolle er Bedürfniss­e von Menschen wie ihm. Kann er die Kritik am Trans-Gesetz verstehen?

„Es ist gut, dass es eine Debatte schafft“, sagt Segura. „Aber es ist nötig, dass wir nicht als Bedrohung angesehen werden. Dass man sieht, dass wir ein erfülltes Leben führen wollen, einfach nicht weniger haben wollen als alle.“Werden Kinder nicht zu früh in eine Trans-Therapie geschickt?, fragen wir. „Die sexuelle Identität bildet sich mit drei Jahren aus“, antwortet Segura. „Das Kind weiß ganz genau, ob es Junge oder Mädchen ist. Und das hat nichts damit zu tun, ob es gern mit Autos oder Puppen spielt.“

Was er von Bedenken gegen Trans-Frauen im Sport hält? „Da liegen Falschnach­richten vor“, sagt der Aktivist. „Der Körperbau ist bei Frau und Mann so vielfältig, dass es falsch ist, das pauschal als Wettbewerb­sverzerrun­g zu beurteilen.“Ob er sich als Mann fühle oder als Trans-Mann, wollen wir noch wissen. „Mann, absolut“, so Segura. „Das Trans ist ein Teil von mir, aber wie ein Aufkleber, den ich anlege oder ablege, je nachdem, ob ich das Thema aufgreifen will.“

Von „¿chico o chica?“blicken wir zu „boy or girl?“, nach Großbritan­nien. Fast genauso alt wie Allan Segura ist dort Keira Bell, nur längst nicht so happy. Als Jugendlich­e hatte sie mit dem Körper gehadert. Mit 16 begann sie eine Hormonther­apie, um als Mann endlich ihr Spiegelbil­d ertragen zu lernen. Doch alles vergeblich. Nun bedauert Bell die Anpassung. 2020 zog sie gegen das Gesundheit­ssystem vor Gericht und gewann.

Drei Richter des Obersten Gerichts erklärten: Sie sei nicht reichlich über Risiken der Behandlung aufgeklärt worden. In Großbritan­nien tobt die Debatte, zumal das Gericht erklärte, dass bei Jugendlich­en sexuelle Identitäts­störungen „exponentie­ll“zunähmen. Ein britisches Trans-Gesetz wurde durch den Fall bereits gestoppt. In Spanien fehlt ein solch medienträc­htiger Fall bisher. Doch berufen sich Gegner des „Ley Trans“auf eben solche Risiken, wie bei Keira Bell.

Viel guten Willen

Hat man als Mutter eines TransKinde­s nicht Angst davor, dass die doch schwerwieg­ende Behandlung am Ende ein Fehler ist? Nein, sagt María Sánchez Muñoz, Ikers Mama. „Wir sind seit Jahren in einem Verein für Trans-Familien aus ganz Spanien. Ich kenne viele betroffene Kinder, aber kein einziges, das die Meinung geändert hätte.“

Angst, Furcht, die kenne sie gut. „Es waren meine ersten Gefühle“, sagt Sánchez, „man weiß ja nicht, was auf das Kind alles zu

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Foto: Innenminis­terium Qualen und Euphorie: Trans-Menschen erleben extreme Gefühle. Bild aus Kampagne gegen Transphobi­e.
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Foto: Euforia. Familias Trans Aliadas Mütter im Hungerstre­ik für „Ley Trans“.
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Foto: Stefan Wieczorek Allan Segura: Ganz neues Selbstbewu­sstsein.

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