Liebe Leser,
Spanien legt am 9. Mai die Fesseln ab, mit denen der Staat die Bevölkerung seit Oktober vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen wollte. Fesseln, weil die Verfassung den Notstand oder estado de alarma als ein Instrument vorsieht, mit dem Spanien Ausnahmesituationen, wie es diese Pandemie zweifellos ist, begegnen kann, indem die Regierung Grundrechte wie die Bewegungsund Versammlungsfreiheit einschränkt. Das kann und darf keine Normalität in einem demokratischen Land sein.
Der Notstand hat aber auch, wahrscheinlich, viele Menschen vor Krankheit und Tod geschützt und einen Kollaps des Gesundheitssystems verhindert. Spanien legt dieses Schutzschild nun ab, obwohl das Land von dem seinerzeit ausgerufenen Ziel von einer 14-Tagesinzidenz von 50 weit entfernt ist. Momentan kann nur die Region Valencia einen so niedrigen Wert vorweisen, anderswo wie etwa im Baskenland gilt das Ansteckungsrisiko noch als extrem. Als Spanien Ende Juni vergangenen Jahres das erste Mal den Notstand beendete, bewegte sich die Inzidenz im einstelligen Bereich, derzeit liegt sie über 200.
Gibt zu denken, aber die vierte Infektionswelle schlägt bei Weitem nicht so weit aus wie die vorherigen. Gleichzeitig schreitet der Impfprozess voran, schützt Tag für Tag mehr Menschen vor Ansteckung und Krankheit und tut das effektiver als der Notstand es vermag. Es ist richtig, dass die Regierung ihn nicht verlängert. Das wäre ein fatales Signal gewesen. Viel hat man über die Nebenwirkungen der Impfstoffe berichtet, weniger über die des Notstands, über Einsamkeit, Entfremdung, Ruin und Spaltung auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Jetzt ist Zeit nach vorne zu schauen, zusammenzuwachsen und aufzubauen, was gelitten hat, beschädigt oder gar zerstört ist. In der Hinsicht hat die Landtagswahl in Madrid wohl ein Signal gesetzt, wegen der Wahlbeteiligung von 80 Prozent und eines Slogans, der den Nerv der Madrilenen traf: Freiheit.