Grauen im Heiligenschein
Ombundsmann Gabilondo schockiert das katholische Spanien mit Bericht über sexuellen Missbrauch in der Kirche
Madrid – sk. Ein schwarzer Tag für das katholische Spanien. Der Ombudsmann Ángel Gabilondo hat am Freitag dem Parlament die umfassende Studie über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche vorgelegt. Die Ergebnisse dieser Radiografie muss man wie der Bürgeranwalt als „niederschmetternd“bezeichnen. Etwa 1,13 Prozent der heute erwachsenen Bevölkerung hat in der Kindheit und Jugend im Umfeld katholischer Institutionen sexuellen Missbrauch erlitten. Etwa 440.000 Menschen in Spanien müssen Hochrechnungen zufolge heute mit traumatischen Erlebnissen aus den 1960er bis 1990er Jahren umgehen. Die Hälfte dieser Opfer wurden von Priestern und Religiösen belästigt, beim Rest legten Laien im Dienst der Kirche ungebührlich Hand an.
Im Rahmen der vom Parlament beauftragten Studie sprach das Team des Bürgeranwalts mit 8.000 Personen in einem Zeitrahmen von 18 Monaten. Vor dem Parlament kritisierte er „das Schweigen derjenigen, die mehr hätten tun können“, um die Kindesmissbräuche und das „Leid und die Einsamkeit der Opfer“zu verhindern. Ángel Gabilondo wollte mit dem Bericht Licht auf ein verborgenes Problem werfen und sein Ausmaß offenlegen, was ihm nur bedingt gelang, da die Schreckenszahlen nur Hochrechnungen sind.
Opferverbände werfen auch ihm vor, nicht weit genug bei seiner Aufklärungsarbeit gegangen zu sein. Die Studie gehe nicht auf Einzelheiten oder die Formen des Missbrauchs ein, sie konnte nicht uneingeschränkt auf die Unterstützung der Kirche und schon gar nicht auf die aller Bischöfe zählen. Sie kann und soll als eine Radiografie dienen, die das Ausmaß und Dauer der Missbräuche umreißt und gerade wegen der weiten Verbreitung dieses Übels die Frage aufwirft, wie und warum so etwas passieren konnte.
Wobei Gabilondo mit über 485 Opfern sprach und seinen eigenen Worten nach „den Horror“und seine Folgen kennenlernte, wie Schlafstörungen, Depressionen, Angstzustände und Schwierigkeiten, zwischenmenschliche und sexuelle Beziehungen zu pflegen.
Diese Zeugnisse flossen in die Studien ebenso ein wie die Reaktion der Kirche auf solche Vorkommnisse, die stets heruntergespielt oder versteckt wurden.
„Jetzt verfügen das Parlament, die Kirche und die Regierung über die notwendigen Daten, um konkrete Maßnahmen zu ergreifen, die den Opfern zu dem verhelfen, was sie brauchen“, sagte der altgediente PSOE-Politiker und frühere Bildungsminister Gabilondo. Ministerpräsident Pedro Sánchez sprach davon, dass „heute unsere Demokratie besser ist“und stellte die Institutionen in den Dienst der Opfer. Doch auch der Ministerpräsident sah es als einen Anfang, ein neues Kapitel in der Aufarbeitung dieser Fälle aufzuschlagen. Es ist nicht das Schlusswort.
Derweil bedauerten Opferverbände wie die Plataforma Tolerancia, dass nicht eine parlamentarische Kommission mit der Studie beauftragt wurde, die die Kirche zur Kooperation hätte zwingen können. „Spanien ist eines der letzten Länder, das so eine Erhebung macht und hätte wissen müssen, was die optimalen Voraussetzungen sind“, sagte Miguel Hurtado im Namen des Verbands. „Die Empfehlungen sind unzureichend und reingewaschen, man hat nicht die Opfer und internationale Experten dazu befragt. Es ist auch skandalös, dass man nicht ein Ende der Verjährung dieser Taten beantragt, dass es keine Empfehlungen gibt, wie diese Vertuschung und Verdeckung bekämpft werden kann. Das Ergebnis ist eine verpasste Gelegenheit, die nicht dem Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und der Verhinderung einer Wiederholung Rechnung trägt.“Die Kritik fällt sehr hart aus, das Leid der Betroffenen ist aber auch sehr groß und nicht wenige tragen es jeden Tag mit sich und sind etwa auf Therapien und Hilfen angewiesen.
Derweil hat die Bischofskonferenz eine Sonderversammlung einberufen, um den Bericht zu studieren und auf die Kritik Gabilondos an den Kirchenfürsten zu reagieren. „Nicht alle Bischöfe haben kooperiert, und einige haben unsere Arbeit verurteilt“, sagte Gabilondo. Die Bischofskonferenz hat eine Anwaltskanzlei mit einer eigenen Erhebung über Missbrauchsfälle in der Kirche beauftragt, die allerdings noch nicht abgeschlossen ist. „Wir fühlen sehr stark mit den Opfern mit und bedauern, falls wir uns in bestimmten Momenten nicht korrekt verhalten haben“, ließ die Bischofskonferenz in einer ersten Reaktion verlauten.
Auch den Kirchenfürsten gefällt die Studie gar nicht und Hochrechnungen
auf der Basis einer Umfrage mit 8.000 Menschen bezeichnet das Gremium als „unseriös“und nicht wahrheitsgemäß. Damit haben die Bischöfe nicht unrecht, man hat die Gelegenheit verpasst, wirklich hiebund stichfeste Ergebnisse zu präsentieren.
Die Zahlen in Spanien stellen die 330.000 in Frankreich erfassten Opfer wohl in den Schatten und machen Schluss mit den Jahren, in denen die spanische Kirche auch nach Bekanntwerden der ersten Fälle vor 20 Jahren versucht hatte, die Vorfälle zu verneinen, zu vertuschen oder als Einzelfälle herunterzuspielen.
Noch vor zwei Jahren sprach die Bischofskonferenz davon, „von null oder wenig Anzeigen“Kenntnis zu haben. Wirklich Licht in dieses dunkle Kapitel warf erst die Zeitung „El País“, die seit Sommer 2018 in einer Recherche Einzelfälle sammelt und bündelt. Als die Zahl nicht aufhörte zu wachsen – heute sind es 2.200 Opfer und über 1.000 Beschuldigte – und die Zeitung die Fälle an den Vatikan weiterreichte, geriet das Parlament unter Zugzwang.
An der Studie des Ombudsmanns hat nicht nur die Tageszeitung mit ihren Daten mitgeholfen, sondern letztendlich auch die Kirche selbst, allerdings „in sehr unterschiedlichen Weisen“. Inzwischen spielten nicht nur die skandalösen Sünden vereinzelter Kirchenmitglieder
eine Rolle, sondern es dreht sich immer mehr um den persönlichen Schaden und das Leid einer stetig wachsenden Zahl von Opfern. Auch die Bischofskonferenz will „die Opfer ins Zentrum“rücken. Demnach meldeten Diözesen und Orden 1.140 Missbrauchsfälle in ihren Kreisen, im April 2021 „wusste man“nur von 220. Trotzdem erfuhr der Ombudsmann von Seiten der Kirche nur von bereits bekannten Fällen.
Fast zwölf Prozent der Befragten erlitten die sexuellen Belästigungen während ihrer Kindheit und Jugend in einem vertrauten Umfeld, also in Kirchen, Schulen, Internaten, Kindergärten, ja sogar im Kreis der Familie. Was die Erhebung unterscheidet von anderen Untersuchungen über Missbrauchsfälle: 64,6 Prozent der von Priestern missbrauchten Kinder und Jugendlichen waren männlich, bei den Laien im Dienst der Kirche liegt der Anteil der männlichen Opfer bei 53,8 Prozent.
Auch die öffentlichen Institutionen und insbesondere die Schulen seien „während langer Zeit inaktiv geblieben angesichts der Realität von sexuellen Missbräuchen und hätten nicht die notwendigen Anstrengungen unternommen, um Minderjährige zu schützen“, meint Gabilondo. Der Staat sollte sich seiner Verantwortung nicht entziehen und mit der Kirche einen Fonds für Reparationszahlungen schaffen. Opferverbände meinen allerdings, das sei ausschließlich Pflicht der Kirche.
„Jetzt verfügen wir über die Daten, um konkrete Maßnahmen zu ergreifen
Problem der Verjährung
Die Studie konzentriert sich in ihren Empfehlungen auf die Anerkennung und Wiedergutmachung des Schadens, greift aber nicht eine der Hauptforderungen der Opferverbände auf: Dass die seiner Zeit begangenen Missbräuche nicht verjähren können. Hinzu kommt, dass die allerwenigsten Täter jemals vor einem zivilen Gericht zur Verantwortung gezogen wurden. „In den vergangenen 80 Jahren war die Straffreiheit der Kinderschänder absolut, ihre Vorgesetzten hatten in vielen Fällen Kenntnis davon und reagierten einfach mit Versetzung und mit Schweigen“, so die Schlussfolgerung der Zeitung „El País“.