Im Bann von El Cabanyal
Geschichte trifft auf den Puls der Zeit – Kampf um Authentizität und Moderne im Fischerviertel von Valencia
Leuchtende, aufwendig verzierte Häuserreihen in maritimen und rostroten Farben ziehen im El Cabanyal sämtliche Blicke auf sich. Lebendige Wandmalereien und Graffitikunstwerke zieren die Wände, erzählen Geschichten von Fischern, dem Meer und der reichen Geschichte des Stadtviertels von Valencia. Einige Straßen werden von Dattelpalmen gesäumt, deren klebriges Fallobst den Asphalt benetzt.
Aus kartographischer Perspektive erscheint der Bezirk in rechteckiger Form, grenzt im Süden an das bekannte Hafenviertel Marina de Valencia, in dem sich sowohl Jacht- als auch Handelshafen der Stadt befinden, und wird mittig durch die Hauptstraße, die Calle de la Reina, die parallel zum Meer verläuft, in zwei Hälften geteilt. Am späten Mittag ist das Viertel wach und belebt. Zahlreiche hübsche und gut besuchte Cafés warten an vielen Straßenecken darauf, entdeckt zu werden, Passanten treffen sich zu angeregten Unterhaltungen auf dem Kirchplatz und die Atmosphäre des einstigen Fischerdorfes wirkt gemütlich und gelassen.
Doch das war nicht immer so – bis vor kurzem noch musste dieser Bezirk einen langwierigen Kampf gegen die Stadtregierung führen, und das spürt man. Gleich beim Betreten des Viertels wird auf eindrückliche Weise deutlich, dass es etwas mit diesem Ort auf sich hat und dass er sich gemeinsam mit den benachbarten Vierteln vom übrigen Valencia unterscheidet. Gezeichnet von einer Geschichte, die ihre Spuren hinterließ und deren Tragweite noch bis in die Gegenwart andauert.
Geschichte und Wandel
Die Geschichte des Cabanyals ist rührend und einprägsam. Sie erzählt von Zusammenhalt und Mut und reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück, als die ersten Fischer sich hier niederließen. Der Fischfang gewann zunehmend an Bedeutung und lockte mehr und mehr Menschen an, die in bescheidenen Schilfhütten, den „cabanyas“lebten und den heutigen Namen des Viertels prägen. Anfang des 18. Jahrhunderts standen hier direkt am Meer schon 200 dieser einfachen Behausungen.
Aus der Siedlung wurde ein Dorf, 1836 bekam Cabanyal sein eigenes Rathaus. Ab dem 19. Jahrhundert begannen die Bewohner nach mehreren Bränden, ihre Häuser aus Stein zu fertigen, und nachdem das Dorf 1897 ein Viertel von Valencia wurde, brach Anfang des 20. Jahrhunderts die Ära des spanischen Modernismus an. Aufwendige und schmuckvolle JugendstilFassaden fingen den Geist der Epoche ein und im Cabanyal begannen die Menschen mittels einfacher Utensilien, ihren eigenen „Modernismo Popular“zu schaffen. Noch heute können die Fliesen in Pastellfarben, die einst mit der schöpferischen Kreativität der Bewohner angefertigt wurden, an den Häuserfassaden bestaunt werden.
Gekoppelt an die Eingliederung des Cabanyals als Stadtteil von Valencia bahnte sich um die Jahrtausendwende ein Konflikt an, der
den Ort nachhaltig prägen sollte. Unter der damaligen Bürgermeisterin Rita Barberá entstand die Idee, das Stadtzentrum durch eine neue Avenida direkt mit dem Meer zu verbinden – mitten durch das historische Viertel hindurch.
Die Baupläne sollten sich mit dem Beginn der 2000er Jahre konkretisieren, sie sahen den Abriss von rund 1.600 Wohnungen in dem Stadtteil vor. Dabei war El Cabanyal nur einige Jahre zuvor aufgrund seiner volkstümlichen Jugendstilbauten vom Landeskultusministerium unter Denkmalschutz gestellt worden – doch trotz allem sollte der Bauplan, der neben einer kulturellen Katastrophe auch die Schicksale von über 1.200 Familien verantworten würde, in die Tat umgesetzt werden.
Der Kampf ums Cabanyal
Nicht verwunderlich also, dass die Bewohner des Viertels sich zusammenschlossen und sich gegen das Rathaus zur Wehr setzten. Unter Gründung der Initiative „Salvem el Cabanyal“stellten sie erneut ihre Kreativität unter Beweis und setzten sich mutig den bereits anrückenden Baggern entgegen. Mangels Renovierungen in jenen schweren Zeiten, begannen die einst aufwendig verzierten Häuser zu verwahrlosen und auch die Kriminalitätsrate ging in die Höhe.
Doch El Cabanyal ließ sich nicht unterkriegen, organisierte Demonstrationen und musste doch immer wieder mit ansehen, wie einige Abrisse von einzelnen Häusern vollstreckt wurden. Im Jahr 2015 konnten die Einwohner des Viertels schließlich aufatmen. Die Rathausregierung wurde abgewählt und endlich kam zum ersten Mal wieder die Straßenreinigung.
„Damals war das Viertel ein Schatten seiner selbst“, erzählt Stephanie Berling, die genau zu der Zeit des Konflikts fürs Studium
nach Valencia kam und jetzt wieder hier lebt. „Ich bin als Studentin mit Rollerblades durch das Viertel gefahren und fand es schon so schön. Damals hingen überall die Plakate „Salvem el Cabanyal“. Doch zu der fragilen Zeit um die Jahrtausendwende hatte nicht jeder ein positives Bild von dem Küstenort: „Seinerzeit, als ich hier durchgefahren bin, hatte meine beste Freundin aus Valencia auch gesagt ‚oh Steffi, pass auf dich auf im Cabanyal!‘“
Heute hat sich der Ort verändert, doch ein gewisser Argwohn einiger Valencianer scheint sich noch immer nicht ganz ausgeschlichen zu haben nach all den Jahren. „Ein Taxifahrer hat mir mal gesagt: ‚die Valencianer leben mit dem Rücken zum Meer‘. Zum einen, weil sie das Cabanyal noch immer nicht ganz anerkennen und zum anderen, weil sie weiterhin ein schlechtes Bild vom Cabanyal haben“, führt die Wahlvalencianerin fort. „Und nur wenige Spanier aus der Stadt gehen hier an den Strand, weil sie sagen, dass durch die Hafennähe das Wasser nicht so rein ist.“Der Strand wird heute vor allem von Touristen und Erasmusstudierenden aufgesucht, denn der verstaubte Ruf, welcher mit Kriminalität und Verwahrlosung konnotiert ist, scheint sich nur langsam in den Köpfen der Großstädter abzubauen – und doch spricht die Realität für sich.
Überall wird gebohrt, gebaut und renoviert, der Stadtteil wird kernsaniert, will sich jedoch um jeden Preis seinen einzigartigen Charme beibehalten. Um dieses Flair von Tradition und Moderne zu erleben, empfiehlt es sich, die alte Fischversteigerungshalle Lonja oder die ehemalige Eisfabrik Fábrica de hielo zu besuchen. Letztere wurde damals zur Kühlung von Fisch genutzt und ist heute als Kulturzentrum und Bar eine angesagte Anlaufstelle im Cabanyal.
Von Konzerten, Workshops, Theater- oder Tanzvorstellungen ist alles dabei und wird fast täglich in der alten Eisfabrik kostenfrei oder kostengünstig angeboten. Für die kulinarisch interessierten Besucher
bietet sich ein Rundgang durch die Markthalle an, welche sich hinter kühlenden Mauern im Carrer de Martí Grajales versteckt. Der traditionelle Markt ist einer der bekanntesten Valencias und zieht sowohl Einheimische als auch Touristen an. Verschiedene Fleisch- und Käsewaren, Wein, frisches Obst und Gemüse und natürlich Fisch können an diesem bunten Ort eingekauft werden.
Kultur und Erhaltung
Doch neben den engen Marktgassen und den hübschen Häuserreihen des Viertels, sollte auch die Meerseite des Cabanyals nicht unbeachtet bleiben. Das Küstenviertel hat seine Vielfältigkeit bereits in vielerlei Hinsicht unter Beweis stellen können und zeigt auch bei einem Spaziergang am Strand entlang interessante Facetten: An der Promenade scheint sich das Flair des Viertels zu verändern. Hier wirkt es urbaner und der ausgedehnte Sandstrand erstreckt sich weitläufig entlang der Küste.
Einige Besucher spielen Volleyball, andere haben sich bei einem Getränk in den Strandlokalen niedergelassen und betrachten das geschäftige Treiben am Meer. Straßenmusiker spielen nostalgische Lieder auf der Gitarre und die Sonne wirft lange Schatten der zahlreichen Palmen auf den Sand. Ein Hauch von Meeresbrise mischt sich unter die verlockenden Düfte der kleinen Tapas-Bars entlang der Strandpromenade. Prächtige Paellas und frische Meeresfrüchte landen auf den Tellern der Besucher und in den Restaurants knistert es in den Pfannen und verströmt einen mediterranen Duft von Gewürzen und heißem Öl.
„Es kommt wieder Leben rein, neue Cafés kommen manchmal monatlich neu dazu“, sagt Berling, die „ihr“Viertel liebt, das sie von früher noch so gut kennt und in dem sie inzwischen dauerhaft lebt. „Es ist der Pueblo-Flair“, fügt sie hinzu. „Es ist das Ganze. Die Menschen. Die Herzlichkeit.“Jeder Schritt durch die bunten Straßen des Cabanyals ist aufgrund der aufwühlenden Vergangenheit eine spannende Erfahrung und das Fischerviertel unbedingt einen Besuch wert. Die Bemühungen der Bewohner, ihre historische Identität zu bewahren und die Straßen ihres Viertels wieder mit Leben zu füllen ist bewegend und spiegelt sich in der Einzigartigkeit des Flairs wieder.
Doch trotz des großen Fortschritts, welchen die stolzen Bewohner dank Vereinen und Initiativen bereits geleistet haben, ist der Kampf um ihre Zukunft noch nicht gewonnen: Bis zur Befreiung von dem Label „No-go-Area“ist es noch ein langer Weg.
„Es ist das Ganze. Die Menschen, die Herzlichkeit“