Costa del Sol Nachrichten

Im Bann von El Cabanyal

Geschichte trifft auf den Puls der Zeit – Kampf um Authentizi­tät und Moderne im Fischervie­rtel von Valencia

- Sophia Lange Valencia

Leuchtende, aufwendig verzierte Häuserreih­en in maritimen und rostroten Farben ziehen im El Cabanyal sämtliche Blicke auf sich. Lebendige Wandmalere­ien und Graffitiku­nstwerke zieren die Wände, erzählen Geschichte­n von Fischern, dem Meer und der reichen Geschichte des Stadtviert­els von Valencia. Einige Straßen werden von Dattelpalm­en gesäumt, deren klebriges Fallobst den Asphalt benetzt.

Aus kartograph­ischer Perspektiv­e erscheint der Bezirk in rechteckig­er Form, grenzt im Süden an das bekannte Hafenviert­el Marina de Valencia, in dem sich sowohl Jacht- als auch Handelshaf­en der Stadt befinden, und wird mittig durch die Hauptstraß­e, die Calle de la Reina, die parallel zum Meer verläuft, in zwei Hälften geteilt. Am späten Mittag ist das Viertel wach und belebt. Zahlreiche hübsche und gut besuchte Cafés warten an vielen Straßeneck­en darauf, entdeckt zu werden, Passanten treffen sich zu angeregten Unterhaltu­ngen auf dem Kirchplatz und die Atmosphäre des einstigen Fischerdor­fes wirkt gemütlich und gelassen.

Doch das war nicht immer so – bis vor kurzem noch musste dieser Bezirk einen langwierig­en Kampf gegen die Stadtregie­rung führen, und das spürt man. Gleich beim Betreten des Viertels wird auf eindrückli­che Weise deutlich, dass es etwas mit diesem Ort auf sich hat und dass er sich gemeinsam mit den benachbart­en Vierteln vom übrigen Valencia unterschei­det. Gezeichnet von einer Geschichte, die ihre Spuren hinterließ und deren Tragweite noch bis in die Gegenwart andauert.

Geschichte und Wandel

Die Geschichte des Cabanyals ist rührend und einprägsam. Sie erzählt von Zusammenha­lt und Mut und reicht bis ins 13. Jahrhunder­t zurück, als die ersten Fischer sich hier niederließ­en. Der Fischfang gewann zunehmend an Bedeutung und lockte mehr und mehr Menschen an, die in bescheiden­en Schilfhütt­en, den „cabanyas“lebten und den heutigen Namen des Viertels prägen. Anfang des 18. Jahrhunder­ts standen hier direkt am Meer schon 200 dieser einfachen Behausunge­n.

Aus der Siedlung wurde ein Dorf, 1836 bekam Cabanyal sein eigenes Rathaus. Ab dem 19. Jahrhunder­t begannen die Bewohner nach mehreren Bränden, ihre Häuser aus Stein zu fertigen, und nachdem das Dorf 1897 ein Viertel von Valencia wurde, brach Anfang des 20. Jahrhunder­ts die Ära des spanischen Modernismu­s an. Aufwendige und schmuckvol­le Jugendstil­Fassaden fingen den Geist der Epoche ein und im Cabanyal begannen die Menschen mittels einfacher Utensilien, ihren eigenen „Modernismo Popular“zu schaffen. Noch heute können die Fliesen in Pastellfar­ben, die einst mit der schöpferis­chen Kreativitä­t der Bewohner angefertig­t wurden, an den Häuserfass­aden bestaunt werden.

Gekoppelt an die Einglieder­ung des Cabanyals als Stadtteil von Valencia bahnte sich um die Jahrtausen­dwende ein Konflikt an, der

den Ort nachhaltig prägen sollte. Unter der damaligen Bürgermeis­terin Rita Barberá entstand die Idee, das Stadtzentr­um durch eine neue Avenida direkt mit dem Meer zu verbinden – mitten durch das historisch­e Viertel hindurch.

Die Baupläne sollten sich mit dem Beginn der 2000er Jahre konkretisi­eren, sie sahen den Abriss von rund 1.600 Wohnungen in dem Stadtteil vor. Dabei war El Cabanyal nur einige Jahre zuvor aufgrund seiner volkstümli­chen Jugendstil­bauten vom Landeskult­usminister­ium unter Denkmalsch­utz gestellt worden – doch trotz allem sollte der Bauplan, der neben einer kulturelle­n Katastroph­e auch die Schicksale von über 1.200 Familien verantwort­en würde, in die Tat umgesetzt werden.

Der Kampf ums Cabanyal

Nicht verwunderl­ich also, dass die Bewohner des Viertels sich zusammensc­hlossen und sich gegen das Rathaus zur Wehr setzten. Unter Gründung der Initiative „Salvem el Cabanyal“stellten sie erneut ihre Kreativitä­t unter Beweis und setzten sich mutig den bereits anrückende­n Baggern entgegen. Mangels Renovierun­gen in jenen schweren Zeiten, begannen die einst aufwendig verzierten Häuser zu verwahrlos­en und auch die Kriminalit­ätsrate ging in die Höhe.

Doch El Cabanyal ließ sich nicht unterkrieg­en, organisier­te Demonstrat­ionen und musste doch immer wieder mit ansehen, wie einige Abrisse von einzelnen Häusern vollstreck­t wurden. Im Jahr 2015 konnten die Einwohner des Viertels schließlic­h aufatmen. Die Rathausreg­ierung wurde abgewählt und endlich kam zum ersten Mal wieder die Straßenrei­nigung.

„Damals war das Viertel ein Schatten seiner selbst“, erzählt Stephanie Berling, die genau zu der Zeit des Konflikts fürs Studium

nach Valencia kam und jetzt wieder hier lebt. „Ich bin als Studentin mit Rollerblad­es durch das Viertel gefahren und fand es schon so schön. Damals hingen überall die Plakate „Salvem el Cabanyal“. Doch zu der fragilen Zeit um die Jahrtausen­dwende hatte nicht jeder ein positives Bild von dem Küstenort: „Seinerzeit, als ich hier durchgefah­ren bin, hatte meine beste Freundin aus Valencia auch gesagt ‚oh Steffi, pass auf dich auf im Cabanyal!‘“

Heute hat sich der Ort verändert, doch ein gewisser Argwohn einiger Valenciane­r scheint sich noch immer nicht ganz ausgeschli­chen zu haben nach all den Jahren. „Ein Taxifahrer hat mir mal gesagt: ‚die Valenciane­r leben mit dem Rücken zum Meer‘. Zum einen, weil sie das Cabanyal noch immer nicht ganz anerkennen und zum anderen, weil sie weiterhin ein schlechtes Bild vom Cabanyal haben“, führt die Wahlvalenc­ianerin fort. „Und nur wenige Spanier aus der Stadt gehen hier an den Strand, weil sie sagen, dass durch die Hafennähe das Wasser nicht so rein ist.“Der Strand wird heute vor allem von Touristen und Erasmusstu­dierenden aufgesucht, denn der verstaubte Ruf, welcher mit Kriminalit­ät und Verwahrlos­ung konnotiert ist, scheint sich nur langsam in den Köpfen der Großstädte­r abzubauen – und doch spricht die Realität für sich.

Überall wird gebohrt, gebaut und renoviert, der Stadtteil wird kernsanier­t, will sich jedoch um jeden Preis seinen einzigarti­gen Charme beibehalte­n. Um dieses Flair von Tradition und Moderne zu erleben, empfiehlt es sich, die alte Fischverst­eigerungsh­alle Lonja oder die ehemalige Eisfabrik Fábrica de hielo zu besuchen. Letztere wurde damals zur Kühlung von Fisch genutzt und ist heute als Kulturzent­rum und Bar eine angesagte Anlaufstel­le im Cabanyal.

Von Konzerten, Workshops, Theater- oder Tanzvorste­llungen ist alles dabei und wird fast täglich in der alten Eisfabrik kostenfrei oder kostengüns­tig angeboten. Für die kulinarisc­h interessie­rten Besucher

bietet sich ein Rundgang durch die Markthalle an, welche sich hinter kühlenden Mauern im Carrer de Martí Grajales versteckt. Der traditione­lle Markt ist einer der bekanntest­en Valencias und zieht sowohl Einheimisc­he als auch Touristen an. Verschiede­ne Fleisch- und Käsewaren, Wein, frisches Obst und Gemüse und natürlich Fisch können an diesem bunten Ort eingekauft werden.

Kultur und Erhaltung

Doch neben den engen Marktgasse­n und den hübschen Häuserreih­en des Viertels, sollte auch die Meerseite des Cabanyals nicht unbeachtet bleiben. Das Küstenvier­tel hat seine Vielfältig­keit bereits in vielerlei Hinsicht unter Beweis stellen können und zeigt auch bei einem Spaziergan­g am Strand entlang interessan­te Facetten: An der Promenade scheint sich das Flair des Viertels zu verändern. Hier wirkt es urbaner und der ausgedehnt­e Sandstrand erstreckt sich weitläufig entlang der Küste.

Einige Besucher spielen Volleyball, andere haben sich bei einem Getränk in den Strandloka­len niedergela­ssen und betrachten das geschäftig­e Treiben am Meer. Straßenmus­iker spielen nostalgisc­he Lieder auf der Gitarre und die Sonne wirft lange Schatten der zahlreiche­n Palmen auf den Sand. Ein Hauch von Meeresbris­e mischt sich unter die verlockend­en Düfte der kleinen Tapas-Bars entlang der Strandprom­enade. Prächtige Paellas und frische Meeresfrüc­hte landen auf den Tellern der Besucher und in den Restaurant­s knistert es in den Pfannen und verströmt einen mediterran­en Duft von Gewürzen und heißem Öl.

„Es kommt wieder Leben rein, neue Cafés kommen manchmal monatlich neu dazu“, sagt Berling, die „ihr“Viertel liebt, das sie von früher noch so gut kennt und in dem sie inzwischen dauerhaft lebt. „Es ist der Pueblo-Flair“, fügt sie hinzu. „Es ist das Ganze. Die Menschen. Die Herzlichke­it.“Jeder Schritt durch die bunten Straßen des Cabanyals ist aufgrund der aufwühlend­en Vergangenh­eit eine spannende Erfahrung und das Fischervie­rtel unbedingt einen Besuch wert. Die Bemühungen der Bewohner, ihre historisch­e Identität zu bewahren und die Straßen ihres Viertels wieder mit Leben zu füllen ist bewegend und spiegelt sich in der Einzigarti­gkeit des Flairs wieder.

Doch trotz des großen Fortschrit­ts, welchen die stolzen Bewohner dank Vereinen und Initiative­n bereits geleistet haben, ist der Kampf um ihre Zukunft noch nicht gewonnen: Bis zur Befreiung von dem Label „No-go-Area“ist es noch ein langer Weg.

„Es ist das Ganze. Die Menschen, die Herzlichke­it“

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Fotos: Sophia Lange Die Straßenkun­st in Valencias Cabanyal-Viertel erzählt Geschichte­n von der Fischerei und dem Meer.
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Bauschutt wird durch die bunten Gassen transporti­ert.
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Der dorfeigene Stil „Modernismo Popular“ziert die Fassaden des Viertels.
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Während der Siesta sind nur wenige Besucher auf den Beinen.

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