Sevillas letzter König
Vor 1.000 Jahren wurde das Königreich Sevilla gegründet – Auf den Spuren von Al Mutamid
Sevilla – mar. Am 2. November 2023 jährte sich die Gründung des Königreichs von Sevilla zum 1000. Male. Außer einiger Historiker wissen davon nicht einmal die Sevillaner. Kein Wunder, denn das Taifa de Sevilla bestand nur 68 Jahre. Davor und danach gehörte Sevilla immer zu etwas – zum Römischen Reich, zum Toledaner Gotenreich, zum Kalifat von Córdoba, radikalen Berberstämmen, dann sehr lange zu Kastilien. Da wurde Sevilla im Grunde sogar die Hauptstadt der Neuen Welt, aber nie von Spanien und nicht einmal von sich selbst. Das Königreich von Sevilla blieb also nur eine Anekdote, wäre da nicht Al Mutamid, Sevillas letzter König, der zur Legende aufstieg.
1023 war Al-Ándalus, das prächtige Umayyaden-Kalifat von Córdoba, schon längst zerbrochen. Drei Jahrzehnte Bürgerkrieg tobten durch die Lande, die Kalifenfami- lie, die einst aus ihrem Großreich in Damaskus fliehen musste, brachte sich jetzt gegenseitig um, Warlords und Minister schwangen sich zu Emiren auf, aus Nordafrika fielen Berberstämme ein, zeitweise herrschten mehrere Kalifen gleichzeitig, vor allem aber herrschte brutales Chaos.
Kriege und Allianzen
In Sevilla setzte sich Abul Qasim Muhammad fest. Er entstammte den Abbadiden, einer uralten Dynastie aus Mesopotamien mit Wurzeln im Jemen. Aus Dankbarkeit, ihn nicht verraten zu haben, ernannte Córdobas vorletzter Kalif, Abderrahman V., bereits ein Kaiser ohne Land noch Volk, Abul zum Emir von Sevilla, das dieser zuvor von den Feinden des Kalifen befreit hatte. Das Taifa, das Königreich von Sevilla war geboren, das sich behaupten konnte, auch weil die Abbadiden mit den erstarkenden Christenreichen im Norden, von denen sich Kastilien als das stärkste abzeichnete, bald Allianzen eingingen, ihnen sogar Tribute für Frieden zahlte.
Ein riskanter Frieden, den Sevillas Taifa freilich brauchte, um anderswo Krieg führen zu können. Es waren vor allem die Zíri, ebenfalls ein machthungriger Berberstamm aus Nordafrika, die sich um Málaga und Granada etablierten und die es zu bremsen galt. Al Mutamid, der Enkel des ersten Königs von Sevilla, machte aber den strategischen
Fehler, die Almoraviden als Hilfstruppen ins Land zu holen, wahre Taliban, die sich bald den größten Teil der Taifas unterwarfen und wieder ein Kalifat errichteten. Die Juden und selbst die gescheitesten Muslime flohen daher zu den Christen oder nach Ägypten. Al Mutamid, der 1040 in Beja, im portugiesischen Alentejo, geboren wurde, wurde so Sevillas dritter und auch schon letzter König. 1091 verbannten ihn die Almoraviden, er starb 1095 mit gebrochenem Herzen in Agmat bei Marrakesch, wo noch heute sein Grab zu besichtigen ist. Historiker sehen sein strategisches Versagen als einen wesentlichen Katalysator für die sogenannte Reconquista an.
Doch das dauerte noch etwas: Unter Al Mutamid erreichte das Königreich Sevilla um 1078 seine größte Ausdehnung, es schluckte die Taifas von Murcia, Algeciras, eroberte Ronda, sogar Córdoba und sicherte sich die strategisch wichtige Bucht von Cádiz sowie die gesamte Algarve hinauf bis 100 Kilometer vor Lissabon.
Doch die erstaunlichste Leistung des Königs war, in den wenigen Jahrzehnten seiner Macht Sevilla mitten im Schlachtengetümmel
zu einer Kulturmetropole aufblühen zu lassen und den Ruhm zu begründen, den die Stadt bis heute spielerisch und kreativ als eine der schönsten Europas und der Welt behauptet. „Der Poet auf dem Thron“nannten ihn schon Zeitgenossen, der alte Schwerenöter El Cid besuchte ihn in Sevilla und versuchte, dessen Glanz im eroberten Valencia zu reproduzieren. Da der Ritter aber ein roher und korrupter Schlächter war, funktionierte das nicht, es wünschten sich die Valencianer sogar die „Taliban“zurück, um ihn loszuwerden.
Al Mutamid residierte im Alcázar, der Sevillaner Palastanlage, dem ältesten, durchgehend von Herrschern bewohnten Schloss Europas – bis heute ist es Residenz des spanischen Königs. Erst kürzlich wurden bei Renovierungsarbeiten Fassaden entdeckt, die Al Mutamids Amtszeit zuzuordnen sind. Tatsächlich stammen die meisten maurischen Gebäude in Sevilla, ob im Alcázar, ob der Torre del Oro oder das Wahrzeichen der Stadt, die Giralda, aus der Almoraviden-Zeit oder sogar von Kastiliens Königen, die maurische Künstler, die mudéjar, mit entsprechenden Arbeiten beauftragten.
Der „Gipshof“, der Patio del Yeso, im Alcázar ist das bedeutendste Bauwerk, das vom König von Sevilla erhalten blieb. Zwar entstand auch der berühmte Patio de los Embajadores in seiner Zeit,
wurde aber später mehrfach umgebaut und neu dekoriert. Die unscheinbare Kirche von San Andrés steht auf den 1.000 Jahre alten Fundamenten der Lieblingsmoschee des Königs. Der Palacio und die Gärten de la Buhaira, heute mitten in der Stadt und umringt von Neubauten, damals eine Idylle außerhalb der Stadtmauern, waren offen für das Volk und geben eine Ahnung von der einstigen Pracht, ebenso wie das Castillo im Vorort Alcalá de Guadaíra, das Al Mutamid errichten ließ.
Fiestas und Legende
Al Mutamid ist als nach außen knallharter, nach innen aber gütiger, kunstliebender, menschelnder König überliefert. Es erzählt die Legende, dass er der dichtenden Haremssklavin Rumaikiyya verfiel, sie heiratete, verliebt mit ihr am Ufer des Guadalquivir spazierte und wegen ihr von allen anderen Frauen ließ. Verse sind von ihm überliefert, die Ishbiliya, wie Sevilla auf Arabisch hieß, wie eine schöne Frau besingen. Er soll Feste mit Gästen aus allen Himmelsrichtungen gegeben haben, die vor Sinnenfreuden und sogar Wein nur so übersprudelten, was die Glaubenswächter natürlich in Rage brachte. War Al Mutamid also vielleicht der Urvater der Feria de Abril? Er war tolerant und weltoffen, etwas sorg- und planlos, aber meistens fröhlich – ein waschechter Sevillaner also.
Mitten im Kriegsgewirr machte Al Mutamid Sevilla zur Kulturmetropole