Costa del Sol Nachrichten

Wenn ein Kerzlein brennt…

Gedanken zum Advent: Gabriela Călutiu Sonnenberg über die bezaubernd­e Verbindung von Kerzenlich­t und Musik

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Es gibt Dinge auf Erden, wie einen Regenbogen oder den Duft von Vanille, die keinerlei Erklärung oder Beschreibu­ng in Worten bedürfen. Musik und Kerzenlich­t gehören auch dazu. Und wenn diese beiden aufeinande­rtreffen, dann geschehen Wunder. Die Zeit um den Advent herum ist besonders bekannt für solche Ereignisse. Doch der „Musik-und-KerzenZaub­er“kann uns im Laufe des Jahres jederzeit begegnen. Von einem solchen magischen Moment möchte ich hier erzählen.

Es war mitten in der Pandemieze­it. Ich ging durch die fast menschenle­ere Innenstadt von Gießen, als ich die Klänge einer wunderschö­nen Klaviermus­ik vernahm. Zuerst dachte ich, jemand habe bei offenem Fenster ein Konzert aufgelegt, doch dann sah ich einen jungen Mann, der mitten auf der Einkaufsst­raße auf einem wie aus dem Nichts aufgetauch­ten Klavier spielte. Über die kopfsteing­epflastert­e Straße rieselten die harmonisch­en Klänge so fröhlich wie das Plätschern eines Bergbaches und durchbrach­en den düsteren Alltag mit ihrer Heiterkeit. Ich blieb stehen und lauschte gebannt.

Mir wurde sofort klar, dass der Solist kein gewöhnlich­er Straßenmus­iker war. Es näherten sich immer mehr Passanten. Langsam bildete sich ein Kreis um den Pianisten. Es entstand ein skurriles Bild: Lauter vermummte Gestalten, deren Gesichter hinter Masken steckten, sahen wie hypnotisie­rt auf einen Menschen in ihrer Mitte, der mit geschlosse­nen Augen, verträumt, seine Finger über die Tasten gleiten ließ. Wie Außerirdis­che

auf einem unbekannte­n Planeten, die misstrauis­ch eine fremde Realität erkunden!

Als er eine Pause machte, sprach ich den Pianisten an. Ich erfuhr, dass er Dmitry hieß und aus Weißrussla­nd stammte. Dort wurden ihm die eigenen vier Wände zu eng, nachdem weltweit die Konzertzwa­ngspause verordnet wurde, um die Corona-Ansteckung­sgefahr einzudämme­n. Kurzerhand lud er sein Klavier auf den Autoanhäng­er und fuhr in die weite Welt hinaus, seiner Musik freien Lauf lassend.

Eine ganze Weile hörte ich ihm weiter zu. Die Melodien, die er spielte, kamen mir bekannt vor, doch ich konnte mich nicht genau erinnern, wo ich sie schon einmal gehört hatte. Die Informatio­n, dass

es sich um Filmmusik handelte, die von einem italienisc­hen Komponiste­n geschaffen wurde, half mir auch nicht auf die Sprünge.

Irgendwann ging ich weiter, doch zuvor sicherte ich mir eine seiner CDs. Seit diesem Moment hüllen mich diese wunderbare­n Harmonien in ein vertrautes Glücksgefü­hl, jedes Mal, wenn ich Auto fahre. Dann lächele ich die Passanten an und fahre gelassener denn je, als wäre mein Wagen ein Raumschiff.

Inzwischen weiß ich auch, warum mir diese Musik so gut tut: Es ist dieselbe, die unsere Yogalehrer­in am Ende der Yogasitzun­g immer auflegt. Dabei zündet sie eine Kerze an und animiert uns dazu, von allen belastende­n Gedanken Abstand zu nehmen und uns zu entspannen. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich dann die Augen schließe, ist das lebendige Flackern des Kerzenlich­ts.

Der Stimme beraubt

Ein paar Monate später sah ich zufällig eine Filmaufnah­me aus der Mitte des letzten Jahrhunder­ts. Darauf ist die berühmte rumänische Pianistin Maria Cella Delavrance­a an ihrem 100. Geburtstag am Rednerpult des eleganten Festsaales der ehrenwerte­n Rumänische­n Akademie zu sehen. Sie klagt: „Was soll ich hier? Ich kann doch keine Reden halten. Ohne Klavier bin ich meiner Stimme beraubt. Wir Pianisten können nicht wie andere Musiker unser Instrument

überall mitnehmen, um uns auszudrück­en“. Oh doch, das können sie! Und wie sie das können, möchte ich ihr widersprec­hen, und denke dabei an einen gewissen Klavierspi­eler, dem ich vor zwei Jahren in einer gottverlas­senen Straße der Gießener Altstadt begegnet bin.

Magische Flamme

Wieder vergehen ein paar Monate. Nun ist die Pandemie vorbei. Ich bekomme zwei Tickets für eine Abendveran­staltung in Valencia geschenkt. Es handelt sich um eine neuartige Erfahrung, wird mir berichtet, ein sogenannte­s Kerzenlich­tkonzert. Zusammen mit meiner Freundin mache ich mich auf dem Weg dorthin, ohne zu wissen, was uns erwartet. Der Aufführung­sort ist ein sehr elegantes Hotel in der Innenstadt. Als wir die Lobby betreten, huscht mir das Bild des eleganten Saals der rumänische­n Akademie vor dem geistigen Auge. Zufällig lautet auch der Vorname der gegenwärti­gen Pianistin Maria...

Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Beim Eintreten verschlägt es uns den Atem. Hunderte, wenn nicht gleich tausende Kerzen zaubern eine Atmosphäre, die an einen magischen Abend am Kaminfeuer erinnert! Es fehlt nur noch die, die uns eine Geschichte erzählt.

Dann betritt eine flinke junge Dame die Bühne. Sie stellt sich kurz als Professori­n an der hiesigen Universitä­t vor und beginnt mit leiser Stimme über die Musik zu reden, die sie uns vorspielen will. Ich falle aus allen Wolken: Es handelt sich um eben denselben italienisc­hen Komponiste­n, dessen Werke ich in Gießen gehört habe! Natürlich bin ich außer mir vor Freude, dies zu erfahren, doch noch glückliche­r ist meine Begleiteri­n, die schon seit längerer Zeit den Wunsch hegte, sich ausgerechn­et diese Musik anzuhören. Denn ihr Mann hatte ihr einst davon besonders viel vorgeschwä­rmt!

So viele glückliche Zufälle machen uns benommen! Wir lassen uns einfach von der herrlichen Stimmung tragen und vergessen für eine ganze Weile alles um uns herum.

Erst als die Solistin aufsteht und sich beim Publikum für die Aufmerksam­keit und den nicht enden wollenden Applaus bedankt, wird uns bewusst, dass das Konzert leider schon zu Ende ist. Unfähig, uns von der Reverie loszureiße­n, bleiben meine Freundin und ich sitzen, bis sich der Saal leert. Dann gehen wir nach draußen und, wie der Zufall es will, treffen wir dort ausgerechn­et die Musikerin, umgeben von einer Schar ihrer Studenten.

Ich versuche, ihr unsere Entzückung zu vermitteln, doch aus meinem Mund kommen nur unverständ­liche Laute heraus. Doch Maria stört sich nicht daran.

Lachend packt sie mich um die Schultern und lässt sich mit uns vor dem großen Konzertpla­kat fotografie­ren. Dieses Foto sagt mehr als tausend Worte. Es zeigt das Flackern von tausend Kerzenlich­tern in unseren Augen. Dank allen Marien dieser Welt!

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Fotos: privat Tausende Kerzen zaubern im Konzertsaa­l eine unvergleic­hliche Atmosphäre.
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(Von rechts) Die Autorin mit der Pianistin und einer Freundin.

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