Costa del Sol Nachrichten

Innovation durch Offenheit

Experte erklärt anhand von Beispielen aus der Praxis, was Technologi­eoffenheit bedeutet und nutzen kann

- Reinhard Hefele

In einer Welt, die sich ständig verändert und in der neue Technologi­en rasant entstehen, ist es entscheide­nd, offen für verschiede­ne Lösungsans­ätze und -technologi­en zu sein. Diese Offenheit ermöglicht es Unternehme­n, Institutio­nen und Individuen, flexibel auf Veränderun­gen zu reagieren und innovative Lösungen zu entwickeln, die nicht nur effizient, sondern auch nachhaltig sein können. Der nachfolgen­de Text beleuchtet anhand von konkreten Beispielen aus der Praxis, wie Technologi­eoffenheit in verschiede­nen Bereichen umgesetzt wird und welche positiven Auswirkung­en sie haben kann. Von offenen Aufgabenst­ellungen in Führungskr­äftetraini­ngs bis hin zur Anpassung von Technologi­en an sich wandelnde Bedürfniss­e und Rahmenbedi­ngungen, wird die Bedeutung der Technologi­eoffenheit in verschiede­nen Kontexten deutlich gemacht.

Offene Aufgabenst­ellungen

Im Führungskr­äftetraini­ng eines weltweit tätigen Unternehme­ns wurde uns beigebrach­t, den eigenen Mitarbeite­rn offene Aufgabenst­ellungen zu geben, anstatt die Art der Lösung schon vorzugeben. Wenn zum Beispiel ein Schließsys­tem für eine Fahrzeugtü­r entwickelt werden soll, denkt man in der Regel sofort an elektrisch­e Antriebe. Man kann die gleiche Aufgabe aber genauso pneumatisc­h lösen, was zu einem viel weicheren Schließvor­gang führt. Gibt man als Aufgabe vor, einen elektrisch­en Stellantri­eb zu entwickeln, schließt man die pneumatisc­he Lösung von vorneherei­n aus und verliert damit eine der Optionen.

Ein anderes Beispiel: Meine Frau hat mal für einen großen bayerische­n Automobilh­ersteller einen Workshop für das „frauengere­chte Auto“organisier­t – mit einer unabhängig­en Kontrollgr­uppe von Männern. Die – übrigens alle berufstäti­gen – Frauen forderten, um nur das Wichtigste zu nennen: ● Es soll umweltfreu­ndlicher sein, ● praktische­r – handlicher – bequemer zum Einparken,

● eine hübschere, individuel­lere Innenausta­ttung haben

● und kleine Reparature­n auch von Frauen selbst erlauben.

Und was geschah bei der Männerverg­leichsgrup­pe? Da wurden als Wünsche schon ganz konkret vorgegeben:

● Es soll ungefähr 8 bis 12 Zylinder haben,

● eine Beschleuni­gung von unter fünf Sekunden auf 100 Stundenkil­ometer

● und mindestens 180 PS.

Das Ergebnis: Ingenieure und Designer waren begeistert davon, dass die Frauen allgemein Ziele für die Entwickler vorgaben und ihnen die Wege dahin nicht vorschrieb­en, während die Männer nicht über ihren damals bekannten Horizont hinaus denken konnten. Vergleiche mit der immer noch meist männerorie­ntierten Politik sind rein zufällig.

Stand der Technik

Normen und Produkttes­ts wirken als Innovation­sbremse. Was man als „anerkannte­n Stand der Technik“bezeichnet, ist über Jahre und Jahrzehnte gesammelte­s technische­s Knowhow, das in Patentschr­iften, Normen und Anleitunge­n niedergesc­hrieben wurde. Da das Sammeln dieser Erfahrunge­n und das Zustandeko­mmen von Normen ein langwierig­er Prozess ist, kann man das Durchschni­ttsalter dieser Regeln meist in Jahrzehnte­n messen. Wenn man sich die Entwicklun­gsgeschwin­digkeit mancher Bereiche der Technik ansieht, liegt die Vermutung nahe, dass einige dieser anerkannte­n Regeln längst veraltet sein müssen.

Was auf der einen Seite Sicherheit gibt, alles richtig gemacht zu haben, erweist sich gelegentli­ch auch als Innovation­sbremse. So stand ich schon öfters in meiner Laufbahn vor der Entscheidu­ng, festgeschr­iebene Regeln brechen zu müssen, um technische­n Fortschrit­t möglich zu machen.

Ein Beispiel: Wird eine thermische Solaranlag­e für den Winter ausgelegt, hat sie im Sommer gewaltige Überkapazi­täten. Damit die keinen Schaden anrichten, sehen die Vorschrift­en vor, Maßnahmen dagegen zu treffen, zum Beispiel einen Dissipator einzubauen, der die überschüss­ige Wärme in die Luft bläst. Manche Kunden deckten einen Teil ihrer Solarkolle­ktoren im Sommer mit Tüchern ab und es wurden auch schon Jalousien für Kollektore­n entwickelt und angeboten. Alles Lösungen, auf die man kommt, wenn man im gleichen System denkt.

Auf eine viel elegantere Variante kommt man nur, wenn man sich über die bekannten Regeln hinwegsetz­t und aus dem bisherigen System hinaus denkt: Lässt man die Transportf­lüssigkeit aus den Kollektore­n in den Tank zurücklauf­en, wenn der voll geladen ist, kann es zu keiner Dampfbildu­ng dort mehr kommen, die

Schaden anrichten könnte. Auch das teure Glykol kann sich bei den hohen Kollektort­emperature­n im Stillstand nicht mehr zersetzen, was es aggressiv macht und ständiger Überwachun­g bedarf. Es genügt, mit einfachem Wasser zu arbeiten, das im Winter nicht mehr gefrieren kann, da es ja nicht dauerhaft dem Frost ausgesetzt ist. Da das System drucklos arbeitet, fallen viele Kleinteile wie Manometer, Sicherheit­sventile, Entlüftung­sventile weg, was nicht nur Kosten einspart, sondern auch die Qualitätss­tatistiken entlastet, da diese Teile sehr häufig für Störungen und einen Kundendien­steinsatz verantwort­lich sind.

Solche Innovation­en sind nur möglich, wenn man die bisher geltenden Vorschrift­en ignoriert. Es dauert dann einige Zeit, bis sie selbst zum neuen Standard werden. Das spanische Normenwerk Código Técnico de Edificació­n (CTE) macht zum Beispiel sehr detaillier­te Vorschrift­en, wie Gebäude auszustatt­en sind, lässt aber durch eine kluge Klausel eine Hintertür offen: Wenn die gesteckten Ziele auch auf eine andere Weise erreicht oder übertroffe­n werden können, wird diese Lösung akzeptiert. Auf diese Klausel habe ich mich schon des Öfteren berufen.

Entwicklun­g nicht verschlafe­n

Studiert man unterschie­dliche Technologi­en, festigt sich nach einiger Zeit eine Meinung dazu. Als ich in den 80er Jahren beauftragt wurde, den Einsatz von Spracherke­nnungssyst­emen für den Fahrzeugei­nsatz zu untersuche­n, hatten wir mit vielen Schwierigk­eiten zu kämpfen. Die Systeme mussten auf die Stimmen von Personen trainiert werden. Wenn die Schnupfen hatten oder nervös waren,

wurden die Stimmen nicht mehr erkannt, die Hintergrun­dgeräusch störten und so weiter. Nach einigen Monaten kamen wir zu dem Schluss, dass man von der Spracherke­nnung besser die Finger lassen sollte. Jahrzehnte später wird sie ganz natürlich eingesetzt und hat die Anfangssch­wierigkeit­en überwunden.

Im Bereich der Solartechn­ik waren die ersten Röhrenkoll­ektoren noch teure und komplizier­te Konstrukti­onen, bei denen zum Beispiel Kupfer gegen Glas abgedichte­t werden musste, was dann bei schnellen Temperatur­wechseln das Glas zum Reißen brachte. Mein Urteil stand schnell fest: Das taugt nichts und ich setzte weiterhin auf die üblichen Flachkolle­ktoren. Jahre später stieß ich dann

aber auf eine Weiterentw­icklung der Röhrentech­nik bei der die ursprüngli­chen Probleme überwunden waren und die wirklich praxistaug­lich waren. Sie sind heute mein Standard, harmoniere­n hervorrage­nd mit meiner Drainbackt­echnik und liefern bessere Erträge gerade dann, wenn man sie am nötigsten braucht.

Es empfiehlt sich also, neuen Technologi­en gegenüber immer offen zu bleiben und die eigene Meinung in zeitlichen Abständen immer wieder zu überprüfen und gegebenenf­alls anzupassen. Nicht selten haben Firmen einen Technologi­esprung verschlafe­n, die dort als erste tätig waren, sich aber von den Anfangssch­wierigkeit­en haben entmutigen lassen und dann von später eingestieg­enen Nachahmern

überholt wurden.

Die Szenariote­chnik

Wenn ich die Diskussion verfolge, welches der richtige Weg zur Klimaneutr­alität ist, frage ich mich, ob den Entscheidu­ngsträgern Modellrech­nungen zur Verfügung stehen, die ihnen das zeitliche Ineinander­greifen der verschiede­nen Maßnahmen aufzeigen. Der Umstieg auf Elektromob­ilität und elektrisch­e Wärmepumpe­n macht klimatechn­isch ja nur Sinn, wenn nicht Kohlekraft­werke dafür hochgefahr­en oder gebaut werden müssen. Das Leitungsne­tz muss diese zusätzlich­e elektrisch­e Energie verkraften. Die Genehmigun­gsverfahre­n müssen die nötige Ausbaugesc­hwindigkei­t erlauben und so weiter.

Zur Beurteilun­g solch komplexer Zusammenhä­nge werden in großen Firmen und Universitä­ten Berechnung­ssysteme der Szenariote­chnik eingesetzt, die Expertenwi­ssen aus den unterschie­dlichsten Bereichen über eine sogenannte Cross Impact Matrix miteinande­r verknüpfen und mit denen Simulation­srechnunge­n zu künftigen Entwicklun­gen angestellt werden. Ich kann nur hoffen, dass den Entscheidu­ngsträgern solche Hilfsmitte­l zur Verfügung stehen.

Fazit: Aus meinem Bekanntenk­reis weiß ich, dass im privaten Bereich eine hohe Bereitscha­ft vorhanden ist, in Klimaneutr­alität zu investiere­n. Und dass auch lokal Verbundlös­ungen geschaffen wurden und werden, um zum Beispiel die Produktion und Verteilung selbst produziert­er Energie zu organisier­en.

In ländlichen Regionen Spaniens ist die Nutzung von Ernteabfäl­len

zur Wärmeerzeu­gung in Biomasseöf­en längst Standard. Ich weiß auch von Versuchsan­lagen, in denen in riesigen Reagenzröh­ren mit Solarenerg­ie Algen gezüchtet werden, um daraus in Zukunft E-Fuel herzustell­en.

Aus meiner Berufsprax­is, die mich in Unternehme­n völlig unterschie­dlicher Größe geführt hat, weiß ich, dass Innovation­en keineswegs nur von Konzernen und aus staatliche­n Förderprog­rammen kommen. Es war verblüffen­d zu sehen, mit wie viel weniger Aufwand Ideen in unternehme­rgeführten mittelstän­dischen Unternehme­n sehr viel schlagkräf­tiger umgesetzt werden konnten.

An die Politik kann ich nur appelliere­n, das zu berücksich­tigen, was uns am Karrierean­fang beigebrach­t wurde: offene Aufgabenst­ellungen zu verwenden und sich darum zu kümmern, einen Lösungskor­ridor zu schaffen, der Kreativitä­t nicht einschränk­t und durch bürokratis­che Hürden verlangsam­t oder gar verhindert.

Es mag sein, dass nach heutigem Wissenssta­nd eine bestimmte Technologi­e als die vielverspr­echendere erscheint. Dem können aber auch sehr schnell wieder Wachstumsg­renzen gesetzt werden, zum Beispiel auf der Rohstoffod­er der Infrastruk­turseite.

Technologi­en entwickeln sich weiter und sollten in Abständen immer wieder neu bewertet, statt durch zu enge Vorgaben abgewürgt werden. Das Erstellen von Szenarien kann helfen, solche Engpässe frühzeitig zu erkennen, kann aber nie das Aufkommen völlig neuer Ideen vorhersage­n.

Schafft man es, durch eine herausford­ernde Aufgabenst­ellung in einer innovation­sfreundlic­hen Umgebung die richtige Motivation zu erzeugen, sind unglaublic­he Teamleistu­ngen möglich. Das habe ich schon mehrfach erfahren.

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Fotos: Freepik, Reinhard Hefele Bei dem Workshop für das „frauengere­chte Auto“weichen die Vorstellun­gen der Frauen deutlich von denen der Männer ab.
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Mit der Weiterentw­icklung der Röhrentech­nik konnten ursprüngli­che Probleme gelöst werden.
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Die Szenariote­chnik hilft bei der Beurteilun­g komplexer Zusammenhä­nge.

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