Innovation durch Offenheit
Experte erklärt anhand von Beispielen aus der Praxis, was Technologieoffenheit bedeutet und nutzen kann
In einer Welt, die sich ständig verändert und in der neue Technologien rasant entstehen, ist es entscheidend, offen für verschiedene Lösungsansätze und -technologien zu sein. Diese Offenheit ermöglicht es Unternehmen, Institutionen und Individuen, flexibel auf Veränderungen zu reagieren und innovative Lösungen zu entwickeln, die nicht nur effizient, sondern auch nachhaltig sein können. Der nachfolgende Text beleuchtet anhand von konkreten Beispielen aus der Praxis, wie Technologieoffenheit in verschiedenen Bereichen umgesetzt wird und welche positiven Auswirkungen sie haben kann. Von offenen Aufgabenstellungen in Führungskräftetrainings bis hin zur Anpassung von Technologien an sich wandelnde Bedürfnisse und Rahmenbedingungen, wird die Bedeutung der Technologieoffenheit in verschiedenen Kontexten deutlich gemacht.
Offene Aufgabenstellungen
Im Führungskräftetraining eines weltweit tätigen Unternehmens wurde uns beigebracht, den eigenen Mitarbeitern offene Aufgabenstellungen zu geben, anstatt die Art der Lösung schon vorzugeben. Wenn zum Beispiel ein Schließsystem für eine Fahrzeugtür entwickelt werden soll, denkt man in der Regel sofort an elektrische Antriebe. Man kann die gleiche Aufgabe aber genauso pneumatisch lösen, was zu einem viel weicheren Schließvorgang führt. Gibt man als Aufgabe vor, einen elektrischen Stellantrieb zu entwickeln, schließt man die pneumatische Lösung von vorneherein aus und verliert damit eine der Optionen.
Ein anderes Beispiel: Meine Frau hat mal für einen großen bayerischen Automobilhersteller einen Workshop für das „frauengerechte Auto“organisiert – mit einer unabhängigen Kontrollgruppe von Männern. Die – übrigens alle berufstätigen – Frauen forderten, um nur das Wichtigste zu nennen: ● Es soll umweltfreundlicher sein, ● praktischer – handlicher – bequemer zum Einparken,
● eine hübschere, individuellere Innenaustattung haben
● und kleine Reparaturen auch von Frauen selbst erlauben.
Und was geschah bei der Männervergleichsgruppe? Da wurden als Wünsche schon ganz konkret vorgegeben:
● Es soll ungefähr 8 bis 12 Zylinder haben,
● eine Beschleunigung von unter fünf Sekunden auf 100 Stundenkilometer
● und mindestens 180 PS.
Das Ergebnis: Ingenieure und Designer waren begeistert davon, dass die Frauen allgemein Ziele für die Entwickler vorgaben und ihnen die Wege dahin nicht vorschrieben, während die Männer nicht über ihren damals bekannten Horizont hinaus denken konnten. Vergleiche mit der immer noch meist männerorientierten Politik sind rein zufällig.
Stand der Technik
Normen und Produkttests wirken als Innovationsbremse. Was man als „anerkannten Stand der Technik“bezeichnet, ist über Jahre und Jahrzehnte gesammeltes technisches Knowhow, das in Patentschriften, Normen und Anleitungen niedergeschrieben wurde. Da das Sammeln dieser Erfahrungen und das Zustandekommen von Normen ein langwieriger Prozess ist, kann man das Durchschnittsalter dieser Regeln meist in Jahrzehnten messen. Wenn man sich die Entwicklungsgeschwindigkeit mancher Bereiche der Technik ansieht, liegt die Vermutung nahe, dass einige dieser anerkannten Regeln längst veraltet sein müssen.
Was auf der einen Seite Sicherheit gibt, alles richtig gemacht zu haben, erweist sich gelegentlich auch als Innovationsbremse. So stand ich schon öfters in meiner Laufbahn vor der Entscheidung, festgeschriebene Regeln brechen zu müssen, um technischen Fortschritt möglich zu machen.
Ein Beispiel: Wird eine thermische Solaranlage für den Winter ausgelegt, hat sie im Sommer gewaltige Überkapazitäten. Damit die keinen Schaden anrichten, sehen die Vorschriften vor, Maßnahmen dagegen zu treffen, zum Beispiel einen Dissipator einzubauen, der die überschüssige Wärme in die Luft bläst. Manche Kunden deckten einen Teil ihrer Solarkollektoren im Sommer mit Tüchern ab und es wurden auch schon Jalousien für Kollektoren entwickelt und angeboten. Alles Lösungen, auf die man kommt, wenn man im gleichen System denkt.
Auf eine viel elegantere Variante kommt man nur, wenn man sich über die bekannten Regeln hinwegsetzt und aus dem bisherigen System hinaus denkt: Lässt man die Transportflüssigkeit aus den Kollektoren in den Tank zurücklaufen, wenn der voll geladen ist, kann es zu keiner Dampfbildung dort mehr kommen, die
Schaden anrichten könnte. Auch das teure Glykol kann sich bei den hohen Kollektortemperaturen im Stillstand nicht mehr zersetzen, was es aggressiv macht und ständiger Überwachung bedarf. Es genügt, mit einfachem Wasser zu arbeiten, das im Winter nicht mehr gefrieren kann, da es ja nicht dauerhaft dem Frost ausgesetzt ist. Da das System drucklos arbeitet, fallen viele Kleinteile wie Manometer, Sicherheitsventile, Entlüftungsventile weg, was nicht nur Kosten einspart, sondern auch die Qualitätsstatistiken entlastet, da diese Teile sehr häufig für Störungen und einen Kundendiensteinsatz verantwortlich sind.
Solche Innovationen sind nur möglich, wenn man die bisher geltenden Vorschriften ignoriert. Es dauert dann einige Zeit, bis sie selbst zum neuen Standard werden. Das spanische Normenwerk Código Técnico de Edificación (CTE) macht zum Beispiel sehr detaillierte Vorschriften, wie Gebäude auszustatten sind, lässt aber durch eine kluge Klausel eine Hintertür offen: Wenn die gesteckten Ziele auch auf eine andere Weise erreicht oder übertroffen werden können, wird diese Lösung akzeptiert. Auf diese Klausel habe ich mich schon des Öfteren berufen.
Entwicklung nicht verschlafen
Studiert man unterschiedliche Technologien, festigt sich nach einiger Zeit eine Meinung dazu. Als ich in den 80er Jahren beauftragt wurde, den Einsatz von Spracherkennungssystemen für den Fahrzeugeinsatz zu untersuchen, hatten wir mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Systeme mussten auf die Stimmen von Personen trainiert werden. Wenn die Schnupfen hatten oder nervös waren,
wurden die Stimmen nicht mehr erkannt, die Hintergrundgeräusch störten und so weiter. Nach einigen Monaten kamen wir zu dem Schluss, dass man von der Spracherkennung besser die Finger lassen sollte. Jahrzehnte später wird sie ganz natürlich eingesetzt und hat die Anfangsschwierigkeiten überwunden.
Im Bereich der Solartechnik waren die ersten Röhrenkollektoren noch teure und komplizierte Konstruktionen, bei denen zum Beispiel Kupfer gegen Glas abgedichtet werden musste, was dann bei schnellen Temperaturwechseln das Glas zum Reißen brachte. Mein Urteil stand schnell fest: Das taugt nichts und ich setzte weiterhin auf die üblichen Flachkollektoren. Jahre später stieß ich dann
aber auf eine Weiterentwicklung der Röhrentechnik bei der die ursprünglichen Probleme überwunden waren und die wirklich praxistauglich waren. Sie sind heute mein Standard, harmonieren hervorragend mit meiner Drainbacktechnik und liefern bessere Erträge gerade dann, wenn man sie am nötigsten braucht.
Es empfiehlt sich also, neuen Technologien gegenüber immer offen zu bleiben und die eigene Meinung in zeitlichen Abständen immer wieder zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Nicht selten haben Firmen einen Technologiesprung verschlafen, die dort als erste tätig waren, sich aber von den Anfangsschwierigkeiten haben entmutigen lassen und dann von später eingestiegenen Nachahmern
überholt wurden.
Die Szenariotechnik
Wenn ich die Diskussion verfolge, welches der richtige Weg zur Klimaneutralität ist, frage ich mich, ob den Entscheidungsträgern Modellrechnungen zur Verfügung stehen, die ihnen das zeitliche Ineinandergreifen der verschiedenen Maßnahmen aufzeigen. Der Umstieg auf Elektromobilität und elektrische Wärmepumpen macht klimatechnisch ja nur Sinn, wenn nicht Kohlekraftwerke dafür hochgefahren oder gebaut werden müssen. Das Leitungsnetz muss diese zusätzliche elektrische Energie verkraften. Die Genehmigungsverfahren müssen die nötige Ausbaugeschwindigkeit erlauben und so weiter.
Zur Beurteilung solch komplexer Zusammenhänge werden in großen Firmen und Universitäten Berechnungssysteme der Szenariotechnik eingesetzt, die Expertenwissen aus den unterschiedlichsten Bereichen über eine sogenannte Cross Impact Matrix miteinander verknüpfen und mit denen Simulationsrechnungen zu künftigen Entwicklungen angestellt werden. Ich kann nur hoffen, dass den Entscheidungsträgern solche Hilfsmittel zur Verfügung stehen.
Fazit: Aus meinem Bekanntenkreis weiß ich, dass im privaten Bereich eine hohe Bereitschaft vorhanden ist, in Klimaneutralität zu investieren. Und dass auch lokal Verbundlösungen geschaffen wurden und werden, um zum Beispiel die Produktion und Verteilung selbst produzierter Energie zu organisieren.
In ländlichen Regionen Spaniens ist die Nutzung von Ernteabfällen
zur Wärmeerzeugung in Biomasseöfen längst Standard. Ich weiß auch von Versuchsanlagen, in denen in riesigen Reagenzröhren mit Solarenergie Algen gezüchtet werden, um daraus in Zukunft E-Fuel herzustellen.
Aus meiner Berufspraxis, die mich in Unternehmen völlig unterschiedlicher Größe geführt hat, weiß ich, dass Innovationen keineswegs nur von Konzernen und aus staatlichen Förderprogrammen kommen. Es war verblüffend zu sehen, mit wie viel weniger Aufwand Ideen in unternehmergeführten mittelständischen Unternehmen sehr viel schlagkräftiger umgesetzt werden konnten.
An die Politik kann ich nur appellieren, das zu berücksichtigen, was uns am Karriereanfang beigebracht wurde: offene Aufgabenstellungen zu verwenden und sich darum zu kümmern, einen Lösungskorridor zu schaffen, der Kreativität nicht einschränkt und durch bürokratische Hürden verlangsamt oder gar verhindert.
Es mag sein, dass nach heutigem Wissensstand eine bestimmte Technologie als die vielversprechendere erscheint. Dem können aber auch sehr schnell wieder Wachstumsgrenzen gesetzt werden, zum Beispiel auf der Rohstoffoder der Infrastrukturseite.
Technologien entwickeln sich weiter und sollten in Abständen immer wieder neu bewertet, statt durch zu enge Vorgaben abgewürgt werden. Das Erstellen von Szenarien kann helfen, solche Engpässe frühzeitig zu erkennen, kann aber nie das Aufkommen völlig neuer Ideen vorhersagen.
Schafft man es, durch eine herausfordernde Aufgabenstellung in einer innovationsfreundlichen Umgebung die richtige Motivation zu erzeugen, sind unglaubliche Teamleistungen möglich. Das habe ich schon mehrfach erfahren.