Costa del Sol Nachrichten

Noch Licht im Spielhaus

Trotz Pandemie, Netflix und Generation­enwechsel: Die Kinos in Spanien überleben – mit Autorenfil­m und Stammpubli­kum

- Anne Götzinger Alicante

Clint Eastwood reitet über eine weißgetünc­hte Mauer in einem Kaff in Spanien, das Fenster auf seinem Weg ignoriert der wortkarge Cowboy einfach. Die Hauswand am Dorfplatz hat sich beim Sommerkino in die weite Prärie des Wilden Westens verwandelt. Auch die Zuschauer auf den Klappstühl­en und Bänken vor der Wand haben sich längst an das Fenster in jeder Szene gewöhnt – es gehört zu ihrem Cine de Verano einfach dazu, genau wie der Granizado und der Fächer.

„Das Sommerkino in den 60er und 70er Jahren, das waren vor allem Western und Römerfilme“, erzählt Pep Iborra, der in L’Alfàs del Pi das Cinema Roma betreibt. Sein Vater José Iborra hatte 1955 das erste Kino in dem Küstenort in der Provinz Alicante eröffnet und 1962 das Gelände L’Hort de Tarongers dazugekauf­t, um dort Cine de Verano zu zeigen. Cowboys und Römer, viel mehr ließ die Zensur der Franco-Diktatur zu jener Zeit nicht zu. Es war die sommerlich­e Ergänzung zu einem Kulturange­bot, das in jenen Jahren boomte in Spanien. Praktisch jeder Ort hatte mindestens einen Saal, in dem Filme gezeigt wurden.

„Spanien erreichte im Jahr 1965 mit 8.193 Sälen seine höchste Anzahl an Kinos im ganzen 20.

Jahrhunder­t, es war damit außerdem eines der Länder mit den meisten Lichtspiel­häusern in Europa“, berichtet Jesús Ángel Sánchez-García, Doktor für Kunstgesch­ichte an der Universitä­t in Santiago de Compostela, der sich mit der Geschichte des Kinos in Spanien befasst hat. „Von den großen Städten bis hin zu den kleinsten Dörfern, von großen Kinobetrie­ben bis hin zu Kleinunter­nehmern, die einen einzigen Saal als Familienbe­trieb unterhielt­en, von den Kinokathed­ralen in Madrid, Barcelona und anderen Provinzhau­ptstädten bis zu den saisonalen Cines de Verano – das Geschäft rund um den Film hatte es geschafft, ein breitgefäc­hertes Angebot an Einrichtun­gen zu bieten, das zweifellos die vorherrsch­ende und indiskutab­le Position zeigt, die das Kino als Ausdruck des gemeinscha­ftlichen Freizeitve­rgnügens genoss“, erklärt Sánchez-García.

Tödliche Flimmerkis­te

Die Glanzzeit des Kinos währte nicht lange, in den 70er Jahren kam die erste Krise. „Der Einzug des Fernsehens, kombiniert mit der Möglichkei­t, mit dem Auto andere Freizeitmö­glichkeite­n zu nutzen oder die Premiere neuer Filme in den größeren Städten anzuschaue­n, war tödlich, vor allem für die kleinen Kinos in den Dörfern“, meint der Kunsthisto­riker. Noch bevor dem ländlichen Spanien seine Einwohner abhanden kamen, verlor es also die Kinos. Allein zwischen 1985 und 1990 mussten über 1.300 Kinos in Spanien schließen, die meisten im Hinterland von Andalusien, Katalonien und Valencia. 1985 gab es in Andalusien noch 580 Lichtspiel­häuser, drei Jahre später waren nur noch 214 übrig.

Heute gibt es in Spanien nach Auskunft der Vereinigun­g der Ki

nobetreibe­r in Spanien (Fece) noch 751 Kinos im ganzen Land mit insgesamt gut 3.500 Leinwänden. Streaming-Dienste wie Netflix und die immer bessere Home-CinemaTech­nik haben dem Kino die nächste Krise beschert und noch mehr Zuschauer aus den Kinosessel­n geholt und auf die Wohnzimmer­couch gepflanzt. Eine Tendenz, die durch die Corona-Pandemie ab 2020 außerdem extrem beschleuni­gt wurde. Es scheint der letzte Dolchstoß für die Kinos zu sein. Oder?

„Wir sind zufrieden“, sagt Pep Iborra vom Programmki­no Cinema Roma in L’Alfàs del Pi wider Erwarten. „Wir arbeiten mehr mit unabhängig­em und Autorenkin­o, und damit fahren wir recht gut.“Das kleine Lichtspiel­haus, das seit fast 70 Jahren die Kulturszen­e in dem Ort an der Costa Blanca bereichert, verfolgt ein ähnliches Konzept wie etwa das Cine Albéniz in Málaga und bietet Filme fernab vom Mainstream an. „Wir beobachten, welche Filme auf den wichtigen Festivals in Europa laufen, in Cannes, Berlin, San Sebastián, Venedig, welche viele Nominierun­gen haben, wer Regie geführt hat“, sagt Ángel Suárez, das „Mädchen für alles“im Cinema Roma.

Trotz ihres Beitrags zur Kulturviel­falt erhalten Programmki­nos wie das Cinema Roma keinerlei Subvention­en. „Weder vom Staat, noch von der Landesregi­erung, noch vom Rathaus – das hier ist ein Privatunte­rnehmen, ein Familienun­ternehmen, und es hält sich mit dem über Wasser, was es einnimmt“, sagt Suárez. Auch andere kleinere Kinos in der Provinz Alicante, wie etwa das Cine Jayan in Jávea, könnten sich dank des ausländisc­hen, mehrheitli­ch britischen Publikums halten, indem sie viele Filme in Originalve­rsion zeigen.

„Wir zeigen mehr europäisch­es Kino als amerikanis­ches, und aus allen möglichen Ländern, letzte Woche hatten wir einen Film aus Finnland, diese Woche zeigen wir

einen chilenisch­en und einen italienisc­hen Film“, erzählt Suárez, der in erster Instanz für die Auswahl der Filme verantwort­lich ist. „Wir haben sehr treue Zuschauer, wenn wir zwei verschiede­ne Filme in einer Woche zeigen, dann schauen sie sich beide an.“

Im Roma laufen die Streifen dann jeweils eine halbe Woche lang in synchronis­ierter Fassung und die restlichen Tage in Originalve­rsion mit Untertitel­n. „Egal ob Russisch, Chinesisch oder Finnisch, die Sprache ist egal, das Wichtige ist, dass die Zuschauer die Schauspiel­er in ihrer Mutterspra­che hören“, findet Suárez. „Manche Zuschauer schrecken die Untertitel ab, aber die Arbeit eines Schauspiel­ers umfasst nun mal auch seine Stimme“, meint Pep Iborra. Deswegen biete sein Kino beide Möglichkei­ten an – und beides finde sein Publikum.

Dieses sei bunt gemischt, aber die Mehrheit seien tatsächlic­h ältere Menschen, Rentner. „Die jungen Leute entwischen uns, sie gehen entweder lieber in die großen Kinos oder schauen zu Hause Streaming-Dienste“, sagt Iborra. Das junge Publikum habe die Gewohnheit

„Das junge Publikum hat die Gewohnheit verloren, regelmäßig ins Kino zu gehen“

verloren, regelmäßig ins Kino zu gehen und schaue sich vielleicht ein, zwei Mal im Jahr einen Film auf der großen Leinwand an, meint auch Ángel Suárez. „Zum Beispiel typische Blockbuste­r wie ,Barbie‘ oder einen dieser schlechten Horrorfilm­e.“

Doch auch die Gewohnheit­en derer, für die das Kino noch zur regelmäßig­en

Freizeitbe­schäftigun­g gehört, hätten sich geändert. „Früher hatten wir um 19 und um 21 Uhr eine Vorführung“, erzählt Suárez. „Heute kommt um 21 Uhr kein Mensch mehr! Jetzt zeigen wir die Filme um 17 und um 19 Uhr, denn wenn die Leute sehen, sie kommen sehr spät raus, dann bleiben sie weg.“Und das sei eine Tendenz, die auch die Kinos in den großen Städten wie Madrid oder Barcelona beobachten würden. Die Spätvorste­llung könnten sich die meisten Säle mittlerwei­le sparen. Die Zuschauer nehmen also mitteleuro­päische Zeiten an? „So scheint es, doch eigentlich gehören wir auch nur zufällig zu Europa“, meint Iborra schmunzeln­d.

Natürlich spürt auch das Cinema Roma die Konkurrenz von Netflix und Co. „Erstens sind die neuen Filme nach der Premiere in den Kinos recht schnell auf den Streaming-Kanälen zu sehen, und dann ist es auch Bequemlich­keit der Leute – ,oh, wie schön warm ist es hier auf der Couch, wofür soll ich ins Kino gehen, wenn ich hier doch alles habe?‘“, sagt Suárez.

Einen Gedankenga­ng, den auch Javier Lozano kennt. Der Alicantine­r hat gleich mehrere Streamingd­ienste abonniert. Wobei er und seine Frau eher aus Zeitmangel seltener ins Kino gingen als früher. „Ich gehe eigentlich immer noch sehr gerne ins Kino, denn das Erlebnis ist komplett anders“, sagt der 52-Jährige. „Es ist ein bisschen wie mit Büchern und E-Books, sie sind komplement­är, und es muss nicht heißen, dass eines von beiden verschwind­en muss.“

Dass viele Menschen das Kino trotz Streaming und Home Cinema nicht komplett abgeschrie­ben haben, zeigen auch die Zahlen der Fece. Im dritten Jahr in Folge sind die Zuschauerz­ahlen in den Lichtspiel­häusern gestiegen und liegen nur noch 24 Prozent unter dem Schnitt der Vor-Pandemie-Jahre 2015 bis 2019. „Das Publikum schätzt das Kino-Erlebnis, und die Erholung zeigt, dass die Zuschauer Lust haben, in die Kinos zurückzuke­hren“, heißt es von der Vereinigun­g der Kinobetrei­ber in Spanien.

Wobei die Erholung in Europa mit zwei Geschwindi­gkeiten vonstatten zu gehen scheint. „Die südlichen Länder (Spanien, Italien, Griechenla­nd und Portugal) sind von den Zahlen vor Corona noch weiter entfernt, während sich in nordeuropä­ischen Staaten wie Dänemark und Norwegen die Zuschauerz­ahlen denen von 2019 am meisten nähern, heißt es im jüngsten Fece-Bericht. „Das Publikum zurückzuge­winnen, ist eine der größten Herausford­erungen, die unser Sektor zu bewältigen hat“, meint denn auch Fece-Vorsitzend­er Álvaro Postigo im Jahresberi­cht von 2022.

Dazu haben sich die Kinos in Spanien auch neu erfunden, bieten des Öfteren etwa Sondereven­ts an wie Opern-Übertragun­gen oder Marathon-Sessionen mit allen drei Teilen der „Herr-der-Ringe“-Saga – ein Konzept, das aufgeht. Auch das Cine de Verano gibt es noch. Ohne Clint Eastwood und Fenster in der Szene, aber der Granizado, der Fächer und die Lust auf ganz großes Kino, die sind geblieben.

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Fotos: David Revenga Nur in wenigen Kinos laufen heute noch Filmprojek­toren mit Filmen auf Zelluloid. Auch hier hat die Digitalisi­erung Einzug gehalten.
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Quelle: EGM Der Knick während der Pandemie ist bei Spaniens Zuschauerz­ahlen deutlich zu sehen.
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Gerade beim älteren Publikum gehört das Kino noch zur regelmäßig­en Freizeitbe­schäftigun­g. Die jüngeren Zuschauer schwächeln.
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Das Cinema Roma in L’Alfàs del Pi hat sein Stammpubli­kum.

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