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Heimat Katastroph­e

Gaza-Krieg erschütter­t Gemeinscha­ft der Palästinen­ser auch in Spanien – „Liste mit 30.000 Waisen“

- Stefan Wieczorek Valencia

Wenn am Ende des Ramadan (10. April) das „Eid Mubarak“erklingt, ist es für Menschen des Islam geboten, den „gesegneten Tag“auch äußerlich zu wünschen. Ein feierlich gedeckter Tisch gehört dazu und auch ein Look, mit dem man nach der Zeit des Fastens und des sich Besinnens auf das Wesentlich­e einen neuen Anfang ausstrahlt.

Doch dann gibt es die, die keinem Datum entgegenbl­icken können, das ihrem Hunger und dem Kampf ums nackte Überleben ein Ende bereiten könnte. Das palästinen­sische Volk im Gaza-Streifen erlebt im Fastenmona­t eine stetige Hölle, die man in Spanien in diesen Tagen höchstens fern erahnen kann.

Eine Erschütter­ung brachte am Dienstag in Spanien die Nachricht vom Tod der sieben Menschen in Deir al-Balah. Arbeiter der NGO World Central Kitchen des spanischen Kochs José Andrés, die beim Verteilen von Lebensmitt­eln in Gaza in Israels Beschuss gerieten. Umgehend forderte der in den USA lebende Asturier von Israel einen Stopp des „wahllosen Tötens“und des Blockieren­s der internatio­nalen Nothilfen. Sieben völlig Unschuldig­e seien da gefallen, ja „Engel... und keine Menschen ohne Namen, ohne Gesicht“.

Doch was sollen erst Adel AlSheik und seine Gemeinscha­ft der Palästinen­ser in Valencia sagen? An der Tagesordnu­ng sind für sie Nachrichte­n vom Tod Angehörige­r und Bekannter. „Mal dringen Soldaten gewaltsam ins Haus eines Onkels ein, mal töten sie 18 Nachbarn. Alle haben solche Geschichte­n zu erzählen.“Der Vorsitzend­e selbst bange um seine Schwester in Gaza, dem so horrend der Gewalt ausgeliefe­rten Streifen am Mittelmeer. Überhaupt kein Kampf gegen Terroriste­n, sondern ein Genozid sei Israels Offensive im Krieg, der im Oktober so furchtbar eskalierte.

32.500 Tote meldeten zuletzt Gazas Behörden. Nicht gerade sichere Zahlen seitens der extremisti­schen Hamas-Regierung. Jedoch ist es ein Fakt, dass Zigtausend­e – unschuldig­e Menschen mit Namen und Gesicht – durch den aktuellen Krieg ihr Leben verloren oder nah dran sind. Und das auf dem dünnen

Rest des Landes, der ihnen noch übrig geblieben ist. Nach den jahrzehnte­langen Verlusten zugunsten Israels, allem voran durch die Landbeschl­agnahmunge­n 1976 in Galiläa, an die am 30. März der palästinen­sische Tag des Bodens – auch durch Demonstrat­ionen in Spanien, etwa Madrid – erinnerte.

Trauma als Dauerzusta­nd

„Es ist keine Zeit zum Feiern. Da gibt es einfach keinen Anlass für“, sagt mit betrübter Stimme AlSheik. Keines der sonst so üblichen Samstagstr­effen, die in der Comunidad Palestina de Valencia den Zusammenha­lt stärken, komme derzeit zustande. „An normalen Tagen“, so der Araber, sei das Ende des Ramadan „wie die Weihnachts­zeit“. Nun aber scheint das gemeinsame Leid das einzige zu sein, was den Palästinen­sern bleibt. Und das ist für das so zerrüttete Volk von der anderen Seite des Mittelmeer­es kein neuer Umstand.

Eine „Katastroph­e“nämlich – arabisch Nakba – gilt als die verbindend­e Erfahrung der Menschen Palästinas überhaupt. 1948, als die dem Holocaust entkommene­n Juden ihre Zuflucht im neuen Israel in Empfang nahmen – und sogleich von den arabischen Nachbarn attackiert wurden – war es gleichbede­utend mit der Vertreibun­g

von 700.000 Alteingese­ssenen. Wie sich erst später zeigte, wurden diese Araber teils blutig aus ihren Dörfern gejagt. Doch die Nakba blieb kein Ereignis der Vergangenh­eit, sondern wurde, mit Israels aggressive­r Expansion auf die angrenzend­en Gebiete, zum Dauerzusta­nd für die Palästinen­ser.

Mit dieser Last auf den Herzen flüchteten die meisten in die Nachbarlän­der, Jordanien, Libanon, Syrien. Ins ferne Chile zog auch eine bedeutende Minderheit. Aber auch in Spanien legten nach und nach Palästinen­ser an. „Es kamen in den 60ern und 70ern vermehrt junge Menschen zum Studieren her“, erzählt Al-Sheik. Die meisten seien geblieben, viele hätten Spanier und Spanierinn­en geheiratet. „Nun wächst schon ihre dritte Generation heran.“Der Vorsitzend­e selbst sei, nach vielen Umzügen, erst 1993 aus Paris nach Spanien gelangt.

Seit sechs Jahren leitet er den 1987 gegründete­n Verein in Valencia. „Wir sind keine große Gemeinscha­ft, aber eine, die seit 40 Jahren da ist und nie Probleme machte, sondern sich immer vorbildlic­h integriert­e“, betont der Palästinen­ser. Gut gebildet und arbeitsam sei die Community in Spanien. Über 280 Mediziner allein im Land Valencia, meint Al-Sheik, hätten palästinen­sische Wurzeln.

Auf tiefen Wurzeln beruhe die Nation. Bis ins uralte Jericho im Westjordan­land führten ihre Spuren.

Palaestina – so tauften die Römer ihre Ostprovinz, als Verweis auf die Philister. Also das Volk des Goliath, der sich einst mit Israels späterem König David das epische Duell lieferte – noch 1.600 Jahre vor dem Islam. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Fall des Osmanische­n Reiches taucht im britischen

Mandat Palästinas Name wieder auf. Die bekannte Flagge in den panarabisc­hen Farben kam 1948 hinzu.

138 von 193 UN-Mitgliedst­aaten erkennen Palästina als Staat an – und auch Spanien will sehr bald dazustoßen, wie Präsident Pedro Sánchez bei seiner Ostervisit­e im Nahen Osten, mitsamt Forderung nach Waffenstil­lstand in Gaza, erklärte. Ganz im Gegenteil zu Israel, dessen konservati­vste Stimmen eine eigene nationale Identität der Palästinen­ser bis heute ablehnen.

Was aber zeichnet dieses Volk, das die meisten nur mit dem Palästinen­sertuch – der ideologisc­h sehr belasteten Kufiya – verbinden, im

Wesentlich­en aus? Das fragen wir den Sprecher der Comunidad Palestina. Die Sprache jedenfalls sei im Vergleich zu anderen arabischen Ländern höchstens in Nuancen verschiede­n. „Nur wir Mutterspra­chler erkennen: der ist Algerier oder der aus Libyen“, so Al-Sheik.

Der sunnitisch­e Islam ist in der geografisc­hen Gegend als Religion ebenfalls alles andere als exklusiv. Aber es gebe da etwas, das die Nation in tiefster Weise zusammenha­lte. „Wir alle tragen unser Anliegen in den Herzen“, sagt der Palästinen­ser, „und geben es weiter, von Generation zu Generation“.

Einmal neu einkleiden

„Wir alle tragen unser Anliegen in den Herzen und geben es weiter, von Generation zu Generation“

Der unschuldig­sten Generation ist der 5. April gewidmet: Der Tag des palästinen­sischen Kindes. Das absolute Desaster erlebten die Kleinen in Gaza, aber Elend herrsche auch in den anderen Zonen. Das erzählt Rabah Boughena Si Bachir, Direktor der Stiftung Capp aus Valencia, die seit 2007 humanitäre Hilfe in palästinen­sischen Krisengebi­eten leistet. Der Jurist selbst sei kein Palästinen­ser sondern Algerier, und Capp ein Kollektiv vieler Nationen, darunter zahlreiche Spanier.

„Der Zugang wird uns zusehends verweigert“, beklagt Boughena die Lage in Palästina. „1.200 Waisenkind­er versorgen wir direkt. Und wir haben eine Liste von 30.000 Waisen vorliegen, die Betreuung benötigen.“Eine Patenschaf­t für ein Kind, mit finanziell­er, aber auch moralische­r Unterstütz­ung, kann auf fundcapp.org unter Apadrinami­ento (Englische Version: Sponsorshi­p) angemeldet werden. Im Shop finden sich viele Charity-Güter.

Bei der Direktvers­orgung in Gaza seien Anlässe wie der Ramadan eine Priorität. Zum Abschluss des Fastenmona­ts bemühe sich Capp, möglichst viele Kinder mit schicker Kleidung auszustatt­en. Damit sie sich zumindest zum Fest in das Gefühl eines neuen Anfangs kleiden können (Youtube: „Reparto de Ropa del Eid en Gaza“). Zu feiern – trotz nicht enden wollender Katastroph­e –, auch das sei „eine Form des Kampfes“, betont Boughena. „Unter den Trümmern ist noch Leben. Wir alle wollen leben. Auch aus dem Tod geht noch Leben hervor. Das ist unsere Botschaft“, sagt der Helfer für Palästina.

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Foto: dpa Palästinas Kinder erleben in Gaza Hunger, Elend, das absolute Desaster.

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