„Die Energie des Publikums formt die Musik tatsächlich mit”
Auftritt des Duos Moving Sounds: Der Trompeter Markus Stockhausen und die Klarinettistin Tara Bouman spielen am 29. März auf der Kulturfinca Son Bauló eigene Kompositionen. Und intuitive Musik. Was das ist und warum Musik ein kultureller Vorreiter ist, er
Zeit, in der Sie Ihren Fokus ganz auf Ihre eigenen Projekte richteten. Davor hatten sie 25 Jahre lang mit Ihrem Vater Karlheinz Stockhausen, einem der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, zusammengearbeitet. Wie kam es zu diesem Wandel? Stockhausen: Die Entscheidung fiel 2001. Ein Grund war, dass ich schon lange mit ihm gespielt hatte und sich die Inhalte und Abläufe für mich wiederholten, auch wenn es neue Stücke gab. Ich sehnte mich nach mehr Freiraum, obwohl ich vorher auch schon immer meine eigene Musik machte. Zeitlich hatte ich in den letzten Jahren nicht mehr so viel mit ihm gespielt, aber es hatte doch meinen Geist, mein Wesen noch gebunden. So entstand ein Befreiungsprozess, in dem ich zum ersten Mal auch größere Kompositionen für Orchester schrieb. Das war schon die richtige Entscheidung.
MM: Sie sind Trompetensolist, Improvisator und Komponist, sind in der klassischen und zeitgenössischen Musik ebenso zu Hause wie im Jazz und der Weltmusik. Ist Musik für Sie eine vollkommene Möglichkeit des Selbstausdrucks? Stockhausen: Das kann ich uneingeschränkt bejahen. Mein Vater sagte, Musik sei die höchste Form der Kunst auf diesem Planeten. Ich kann das unterstreichen, weil da etwas so unmittelbar ausgedrückt werden kann, in einer Tiefe und mit einem Reichtum, wofür man sich in den anderen Künsten sehr viel mehr mühen muss. Musik übersteigt die mentalen Konzepte von Vorstellung, Meinung, Ansicht, Glauben und Wissen. Sie kann den Menschen als Ganzen erreichen. Es sind Bereiche, die jenseits des Zugriffs unseres Verstandes liegen. Aber wenn man berührt wird, öffnet sich etwas, wird belebt oder ruft eine ganz tiefe Erinnerung, Sehnsucht oder Hoffnung wach, oder gibt eine tiefe Befriedigung auf einer seelischen Ebene, die das Alltägliche komplett übersteigt. Für mich kommt noch dazu, dass gerade die Begegnung mit anderen Musikern eine Tiefe der Kommunikation erlaubt, die im Alltag so nicht gegeben ist.
MM: Welche Rolle spielt es da, dass die Musik seit Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal eine extreme Erweiterung ihrer Möglichkeiten erfahren hat? Ihr Vater hat sie ja intensiv erkundet, und Sie tun das auch. Stockhausen: Wie Sie richtig sagen, hat im 20. Jahrhundert eine Explosion der Ausdrucksmöglichkeiten in der Musik stattgefunden, von elektronischer bis hin zu geräuschhafter Musik. Eigentlich wurde alles, was machbar ist, ausprobiert und in Musik integriert, vom kleinsten
Geräusch bis zum größten Klang, von harmonischen bis zu komplett disharmonischen Klängen. Das ging damals sogar teilweise ins Performative, dass zum Beispiel ein Klavier auf der Bühne zersägt wurde. Oder das Stück „4'33” von John Cage, bei dem der Klavierdeckel geöffnet wird, der Spieler aber keinen Ton spielt. So etwas kann man historisch aber nur einmal machen, das zu wiederholen macht keinen Sinn. Danach, ab den 70er, 80er Jahren kehrte man wieder mehr zu melodischen Kompositionen zurück, so auch mein Vater. Ich erinnere da an „Tierkreis” oder „Sirius”, aber auch an seine sieben Opern im Zyklus „Licht”.
MM: Und heute? Stockhausen: Jetzt ist man in einer Zeit der Synthese und der Authentizität. Jeder Künstler hat die Möglichkeit, sich aus
dem ganzen Reichtum der aufgezeigten musikalischen Möglichkeiten – auch anderer Kulturen – das auszuwählen und weiterzuentwickeln, was seinem oder ihrem tiefsten Wesen entspricht. Früher stand das Förmliche stark im Vordergrund. Man musste Sinfonien, Sonaten oder Messen et cetera schreiben. Dann kamen immer freiere, bis hin zu bewusst gewählten, ganz neuen Formen hinzu. Jetzt sind wir in einer Zeit danach, und da sehe ich die Musik als kulturellen Vorreiter. Wir sind historisch in einer Zeit angekommen, wo der Mensch sich frei zu einem individuellen, authentischen Menschen entwickeln und sich aus all den hierarchischen Strukturen lösen könnte und dürfte, ob das staatliche, soziale oder religiöse Strukturen sind, die uns vorgegeben werden.
MM: Sie sagten „könnte“und „dürfte“, nicht „kann“und „darf“. Stockhausen: Wir haben die Möglichkeit dazu, aber erleben im Außen im Moment genau das Gegenteil. Wir gehen zurück zu den alten Konflikten und Machtstrukturen und verstärken diese sogar noch. Das ist für mich eine Gegenreaktion, eine Ohnmacht gegenüber dieser wunderbaren neuen Möglichkeit. Ehe wir den Mut zur Freiheit finden, kommen noch einmal alle alten Ängste hoch. Erst wenn diese überwunden sind, ist die Bahn wirklich frei für den neuen Menschen und die Entfaltung des unendlichen Potenzials, das in uns allen angelegt ist. Dafür müssten bestimmte Grundwerte anerkannt werden, vor allem Respekt, und dass man eben keine Kriege mehr führt, dass alle zu essen haben und sich bilden können, so dass die energetischen Ressourcen, die ja da sind, allein zum Wohle der gesamten Menschheitsfamilie verwendet werden.