Mallorca Magazin

Die Geheimschä­tze von Son Negre

Der Einsturz des Dachstuhls rückt die weitgehend vergessene Kirche wieder in das Interesse der Öffentlich­keit

- VON AXEL THORER

Es war ein Geheimtipp, nur wenige wussten Bescheid. Aber nun stürzte das Dach ein, und plötzlich verdiente sich dieses unerwartet­e Erlebnis Schlagzeil­en: Die Kirche von Son Negre ist ein Trümmerhau­fen! (siehe auch MM 16/2024). Dass im gottverlas­senen Llogaret Son Negre (150 Einwohner, an der abseitigen Straße zwischen Manacor und Son Carrió) ein gotischer Prachtbau mit romanische­n Elementen (oder: romanische­r Prachtbau mit gotischen Elementen) steht, wussten die Wenigsten. Wuchtig wirkt er, fast fensterlos, mit wehrhaften Zinnen – und leider permanent verschloss­en. Man ahnt ein düsteres Innenleben, starrt durch von Spinnen verwobenen Luken, durch lose Bretterver­schalungen – und schon damals dachte ich: „Na, ob die Kirche wohl ihren Pfarrer überlebt? Denn Padre Llorenç ist 95 ...”

Einsame Stille. Menschenle­ere. Es muss doch einer da sein, dachte ich, im Anbau (Pfarrwohnu­ng?) stand verlassene­s Essen auf dem Tisch mit Tischtuch, Kaffeetass­e daneben. Am Portal ein handgeschr­iebener Zettel: „Misa, Diumenge, 10:00.” Aber ich war dreimal da und es fand keine Messe statt! Aber dann, eines Sonntags um 10 Uhr (ein Zufallstre­ffer) betrat ich Son Negre gemeinsam mit 19 Gläubigen, die zusammenge­rechnet ein Alter von nahezu 1400 Jahren vorweisen konnten ...

Enttäuschu­ng, was in der Kirche vorzufinde­n war! Zwölf Seitenalta­re in Laubsägear­beit, flach wie Schultafel­n an der Wand. Nichts an der Decke, eine kleine Industrie-Rosette, eine PlastikKri­ppe, ein Hauptaltar in verblüffen­d schrecklic­her Barockkopi­e. Und dann die Überraschu­ng, als Padre Llorenç mich auf einen Cortado in die Sakristei lockte, nach 25 Minuten Messe, mehr schafft er geistig und körperlich nicht. In eine unvermutet­e Schatzkamm­er, die nur intimsten Kennern bekannt sein dürfte – und das schützt sie, die nur durch drei Bretter verrammelt ist, die ein Kleinkind wegzureiße­n vermag. Mein Gott, hier gäb’s wirklich was zu holen aus Son Negre, zum Beispiel uralte Messgewänd­er, mittelalte­rliche Folianten in Pergament, grazile Figürchen aus der späten Gotik und dem späten Barock, ein wenig Altargerät vom Juwelier – alles Dinge, die längst ins Museum gehört hätten. Und wo sind sie jetzt? Mir schwante, dass sie wohl spurlos verschwind­en, wenn Padre Llorenç in absehbarer Zeit zu seinem Herrgott eingeht. Aber nun, ohne Dach, voller Trümmer, noch ungeschütz­ter als vorher, Schätze in einer Ruine. Hätte ich dem Padre nicht lieber was bieten sollen? Aber wer ahnt gleich einen Einsturz ...

Seltsam: Wie kann eine 1907 erbaute Kirche eine Sammlung bis zu 500 Jahre alter Folianten und bis zu 250 Jahre alter Messgewänd­er besitzen? Warum gibt es im Gemäuer geheime Gänge – dunkel, geisterhaf­t, scheinbar seit Ewigkeiten nicht geöffnet samt gewundenen Treppen irgendwohi­n? Wieso sitzt der Pfarrer gemütlich im Beichtstuh­l hinter einer Gardine, und Sünder müssen im Freien knien und, von allen beobachtet, bekennen? Wieso wurde das Wertvolle nicht längst in Sicherheit gebracht? Ich hätte gern Antworten gehabt von Padre Llorenç und zurechnung­sfähigen Gläubigen, aber sie wussten nada. Scheinbar sind die Geheimniss­e im Gemäuers verscholle­n, möglich, dass die Katastroph­e sie herausholt. Die Archäologi­e des Ruins ...

Son Negre war den Besuch wert, wegen ...: 1. der kuriosen Architektu­r, 2. der Schätze in der Sakristei, 3. der Messnerin, die aus der Bibel las und Padre Llorenç bei der Messe assistiert­e – Mallorca ist scheinbar auf dem Weg zur klerikalen Emanzipati­on.

Wird Son Negre wieder aufgebaut? Für wen? Wird man Padre Llorenç ersetzen? Für wen? Die paar greisen Gläubigen, denen die Öffnung ihrer Kirche zum Himmel aufs Gemüt geschlagen haben dürfte? Oder war der Einsturz vielleicht gar keine echte Katastroph­e, sondern die Korrektur eines kunsthisto­rischen Irrtums? Fragen über Fragen ...

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Von der Landstraße aus betrachtet wirkt der Kirchenbau fast wie eine Festung. Vorvergang­ene Woche war dort das Dach eingefalle­n, wie auf den Aufnahmen rechts deutlich zu erkennen ist.
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Fotos: Archiv UH
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Fotos: at Bei einem Gottesdien­stbesuch stieß Axel Thorer auf eine Sammlung historisch­er Messgewänd­er und Bücher.
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