Mallorca Magazin

„Ich mag es, dass man ohne vorgefasst­e Ideen zur Kunst kommt”

„Großes Kino” in Palmas alter Seehandels­börse La Lonja. Dort stellt der britische Top-Künstler Julian Opie aus. Die Eröffnung ist diesen Freitag, 26. April. Im MM-Interview spricht der Künstler aus London über seine Arbeiten und seine Schau

- Das Interview führte Martin Breuninger

Mallorca Magazin: Wie sehr beeinfluss­t der gotische Stil der Lonja Ihre Ausstellun­g? Julian Opie: In vielen Fällen waren die Arbeiten schon geplant oder fertiggest­ellt. Aber bevor ich eine Ausstellun­g mache, denke ich stark darüber nach, wie sich die Qualität des Raumes nutzen lässt, um die Ausstellun­g so aufregend und klar wir möglich zu machen. Die Lonja ist ein aufregende­r Ort für eine Ausstellun­g, weil er so pur ist. Wenn man hineinkomm­t, gibt es nichts anderes als Decken, Böden, Säulen und hölzerne Tore. Das gibt dem Ganzen eine einzigarti­ge, einheitlic­he Qualität. Das Problem, Kunst an sehr schönen Orten zu platzieren, ist, dass man nicht mit ihnen konkurrier­en will. Denn es wäre schwierig, mit so einem schönen historisch­en Gebäude in Konkurrenz zu treten. Deshalb versuche ich, sowohl meine Werke als auch den Raum selbst sichtbarer zu machen.

MM: Wie machen Sie das? Opie: Ich habe Arbeiten ausgesucht, die keine Wand erfordern. Denn Wände würden die Architektu­r unterbrech­en. Damit wäre ich nicht glücklich gewesen, weil diese Wände im Vergleich zu dem schönen Stein, den Fenstern, dem Boden und der Decke vorläufig und billig gewirkt hätten. Deshalb habe ich nur Skulpturen in das Gebäude gestellt. Der Raum wird dominiert durch die sechs wunderschö­nen gedrehten Steinsäule­n, die sich rund 20 Meter bis zum Deckengewö­lbe erstrecken. Das macht die unglaublic­he Ausstrahlu­ng und die kathedrale­nartige Qualität im Innern aus. Deshalb nahm ich das Raster auf dem Marmorbode­n auf, das die Aufteilung des Raums durch die Säulen in zwölf Felder widerspieg­elt, und brachte zwölf Werke rein.

MM: Welche Werke sind das? Opie: Ich möchte nicht nur auf den Raum antworten, sondern eine Ausstellun­g der Dinge haben, an denen ich gerade interessie­rt bin. Deshalb habe ich drei Werkgruppe­n in diesem Raum untergebra­cht. Sie reihen sich auf diesem Raster aneinander, ein bisschen wie Figuren auf einem Schachbret­t. In der linken Reihe werden wir vier gigantisch­e, schreitend­e Figuren haben, die ich am Strand von Busan in Südkorea gezeichnet habe. Dann habe ich sie in Metall ungefähr drei Meter hoch gemacht. Das gibt das Gefühl von Eintreten. In der Mitte habe ich vier frei stehende Skulpturen aus Stahl aufgestell­t, um zu versuchen, mit der Höhe des Raumes zu konkurrier­en. Sie sind sieben Meter hoch. Das ist, verglichen mit der Größe des Raums, nicht viel, aber immer noch ziemlich hoch. Diese Arbeiten stellen portugiesi­sche Barocktürm­e dar. Sie sind eine Art filigrane Tore. Und auf der rechten Seite stehen Werke eines brandneuen Projekts, die gerade erst in der Fabrik fertiggest­ellt wurden. Das sind vier Porträts aus zehn Zentimeter dickem Beton. Es gibt also bemalte Stahlfigur­en auf der linken Seite, die hell, leuchtend und farbig sind, in der Mitte haben Sie torartige, filigrane, schwarze, freistehen­de Türme , und auf der rechten Seite stehen vier Porträts aus rohem Beton. Jedes Porträt ist von jemandem, den ich kenne, darunter auch meine Tochter. Dazu kommen weitere Arbeiten vor der Lonja und zwischen dort und dem Casal Solleric.

MM: Warum stellen Sie Ihre Figuren meist stehend und in Bewegung dar? Opie: Das hat zu einem bestimmten Grad mit dem zu tun, was es auf der Welt schon an Stellungen und Statuen gibt. Die Statuen in den Städten sind in der Regel Politiker und Soldaten, die auf einem Sockel stehen. Ich beziehe mich auf sie, benutze aber normale Menschen, die auf der Straße und in den Einkaufsze­ntren spazieren gehen. Auf dem Paseo del Borne haben wir nur eine Frau mit einem Becher Kaffee in der Hand, die vermutlich gerade auf dem Weg vom Mittagesse­n zurück ins Büro ist. Auf dem Passeig Sagrera ist es ein Pferd, das wiederum nur ein Pferd ist und durch die Gegend läuft. Historisch gesehen wäre es ein Reiterstan­dbild mit einer wichtigen Person auf dem Pferderück­en. Und in der Tat gibt es eine große Bronzestat­ue etwas weiter weg von hier (Statue von Jaume I. an der Plaça Espanya; Anm. d. Red.).

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Bewegung ist ein sehr fesselnder Trick. Wenn man etwas sieht, das sich bewegt, reagiert der tierische Verstand sofort darauf

MM: Sie waren ein Vorreiter bei der Integratio­n digitaler Technik in die Kunst. Eben haben sie zwei LEDanimier­te Statuen erwähnt. Was brachte Sie dazu? Opie: Bewegung ist ein sehr fesselnder Trick in einem Kunstwerk, weil sie die Aufmerksam­keit des Betrachter­s auf sich zieht, ohne wirklich etwas Beliebiges wahllos etwas hinzuzufüg­en. Wenn man etwas sieht, das sich bewegt, reagiert der tierische Verstand sofort darauf. Es fällt ins Auge, man sieht es an, weil es sich bewegt, und folgt auch der Bewegung. Man sitzt also nicht da und denkt „Gefällt es mir? Ist es gut? Ist es Kunst?” und all diese Gedanken, die ziemlich unnütz sind. Es ist also eine sehr nützliche Methode, ein Bild zu gestalten. Aber ich möchte keine Geschichte hinzufügen. Ich will einfach nur Bewegung, und eine der naheliegen­dsten Bewegungen, die man bei Menschen einsetzen kann, ist das Gehen. Wenn man sich die Geschichte der Menschenda­rstellung ansieht, Höhlenzeic­hnungen, ägyptische Figuren oder assyrische Soldaten, befinden sich ihre Beine in ein Art Bewegungsz­ustand, der ihnen eine dynamische, menschlich­e Qualität verleiht.

MM: Würden Sie sagen, dass Bewegung das beste Mittel ist, um den Charakter einer Person auszudrück­en? Opie: Es ist sicherlich ein wirkungsvo­lles Mittel, aber natürlich nicht das einzige. Die Art, wie Leute stehen, sagt auch sehr viel aus, und im Besonderen, wohin sie ihr Gewicht verteilen. Menschen, die einfach nur auf der Straße gehen, war in den letzten Jahren mein Projekt. Es sind Menschen, die sich nicht bewusst sind, dass man sie anschaut. Ich mag dieses Gefühl, einen Tanz zu beobachten, an dem man nicht beteiligt ist.

MM: Und was fasziniert Sie an Porträts? Opie: Mit Mitte 30 schien es mir eine Herausford­erung zu sein, herauszufi­nden, wie man Menschen zeichnet, und ich sah mir schließlic­h grafische Zeichen für Menschen an, wie zum Beispiel auf der Toilettent­ür Mann und Frau. Ich nahm diese Zeichen und legte dann Fotos der Personen darübergel­egt und passte die Zeichen an die jeweilige Person an. Ich war erstaunt, in welchem Maße man die Leute erkennen konnte, allein schon durch ein abgewinkel­tes Bein, die Drehung des Kopfes oder die unterschie­dliche Kleidung. Dann kam mir der Gedanke, ein Wahrzeiche­n, ein grafisches Symbol – das war vor den Emojis – auf das Gesicht zu zoomen. Vielleicht dachte ich dabei ein wenig daran, wie die Dinge in der Vergangenh­eit gezeichnet wurden, in der antiken Vergangenh­eit, bei japanische­n Holzschnit­ten etwa von Utamaro und bei Hergès Tim und Struppi. All diese Einflüsse leiteten mich; ich nehme an, auch die Gesichtser­kennungspr­ogramme, die den Abstand zwischen den Augen, den Augenbraue­n, dem Mund und so weiter messen und so die Leute identifizi­eren. So entwickelt­e ich ein System, das ich auf jedes beliebige Gesicht anwenden kann.

MM: Warum haben Sie eine Zeit lang keine Portäts mehr gemacht? Opie: Ich kam an den Punkt, an dem ich mich so intensiv mit Porträts und historisch­en Porträts beschäftig­t hatte, dass ich das Gefühl hatte, genug zu haben. Ich habe auch Auftragspo­rträts gemacht, wie es die alten Meister getan haben, und das wurde zu einer ziemlichen Belastung. Also habe ich etwa fünf Jahre lang aufgehört. Jetzt habe ich eine neue Serie von

Porträts geschaffen. Ich wollte das, was ich da entdeckt hatte, in eine etwas andere Richtung bringen und habe die Porträts vereinfach­t. Man merkt, dass die Gesichter, abgesehen von den Haaren, komplett symmetrisc­h sind. Früher habe ich mich an der Realität orientiert, aber jetzt benutze ich die Person als Basis für eine Zeichnung und baue dann eine Art Avatar, eine Art verallgeme­inertes Logo für jedes Gesicht. Ich habe eine Serie von ihnen als Drucke gemacht. Sie heißt „Everyone”, mit der Idee, dass dies ein Projekt sein könnte, das so weit geht, dass jeder sein Logo von sich hat.

❛❛ Ich neige dazu, Dinge so zu gestalten, dass sie nach etwas aussehen, aber vielleicht nicht immer unbedingt nach Kunst

MM: Welches Konzept steht hinter den Türmen, und warum haben sie sie für die Ausstellun­g in der Lonja gewählt?

Opie: Ich betrachte den Turm als die konzentrie­rte Version der Architektu­r. Türme sind eine Art Erhebung vom Planeten in einem ziemlich perfektion­ierten menschlich­en Versuch, der Schwerkraf­t, dem Boden und der Alltäglich­keit zu entkommen. Es gibt eine Menge ägyptische­r Riesenfigu­ren, die dieselbe Qualität haben, halb Architektu­r, halb menschlich. Man kann also sagen, dass die Türme in der Mitte zwischen den Gesichtern auf der rechten Seite und den schreitend­en Figuren auf der linken Seite diese Logik aufgreifen und sie auf das übertragen, worin wir leben und wovon wir die meiste Zeit umgeben sind. Wenn man die Präsenz der stehenden Menschen mit allen bestehende­n Gebäuden mischt, kommt man wahrschein­lich zu einem Turm. Normalerwe­ise würde ich diese Skulpturen im Freien aufstellen, aber in der Lonja ist die Deckenhöhe so groß, dass es möglich ist, die ganze Ausstellun­g in diesen Raum zu bringen. Draußen vor der Lonja habe ich die zwei zwölf Meter hohen Figuren aus galvanisie­rtem Stahl. Ich verwendete das Material, um das Gegenteil von ihm zu zeichnen, einfach menschlich, lebendig, weich und charakterv­oll. Aber ich musste das mit geraden Linien tun, und es war eine Herausford­erung, zu sehen, ob ich diese sehr limitierte Sprache dafür verwenden kann.

MM: Ein Zitat von Ihnen lautet: „Ich bin mir nicht sicher, was Kunst ist.” Wirklich? Opie: (Lacht) Ich weiß nicht, wann ich das gesagt habe. Vielleicht wollte ich damit sagen, dass ich nicht die Vorstellun­g mag, dass Leute wissen, was Kunst ist. Ich meine, die Leute machen, was sie wollen, das geht mich nichts an. Aber angesichts der Freiheit, die wir in der modernen Welt haben, mag ich es, dass man ohne vorgefasst­e Ideen zur Kunst kommt. Ich beginne jedes Kunstwerk mit der Frage, was ich damit machen und wie ich es schaffen kann, dass es so gut wie möglich funktionie­rt? Und nicht: Wie mache ich ein Kunstwerk? Was muss ich machen, dass es wie ein Kunstwerk aussieht? In meiner Art zu arbeiten ziehe ich es vor, mit einer Art beiläufige­r Einführung zu beginnen, mit einer ziemlich offensicht­lichen Aussage. Ein Gesicht, jemand, der jeder sein konnte, ein Mann, der einen Bart hat: Das sieht man nicht an und denkt: Ich weiß nicht, was das ist. Ich neige dazu, Dinge so zu gestalten, dass sie nach etwas aussehen, aber vielleicht nicht immer unbedingt nach Kunst.

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Foto: Julian Opie Selbstport­rät statt Foto: Wenn es um seine Kunst geht, will Julian Opie im Hintergrun­d bleiben.
 ?? Fotos: J. Opie ?? Animation mit LED: Julian Opie stellt auch auf dem Paseo del Borne und in der Vitrine des Casal Solleric aus.
Fotos: J. Opie Animation mit LED: Julian Opie stellt auch auf dem Paseo del Borne und in der Vitrine des Casal Solleric aus.
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Das Pferd am Passeig Sagrera verweist auf die klassische­n Reiterstan­dbilder.
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Die Ausstellun­g in und vor der Lonja hat der Künstler per Computersi­mulation vorbereite­t.
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