Ernährung E ist die neue Religion
Paleo, P Rohkost, Veganismus oder Intervallfasten. Ernährungslehren sind für viele i hrer Anhänger so lebensbestimmend geworden wie für andere Religion. Warum?
Jü ürg Hösli, Essen wird zunehmend m zu einer Ersatzreligion. Wie W konnte das passieren?
Bei der Ernährung gibt es keine allgemeingültigen Richtlinien. Meinungen M werden also über Wissen W gestellt. Jeder kann mal recht haben, nach seiner Fasson leben und auf das vermeintliche Heiligtum hoffen. Wenn ich an den Heiligen Stuhl oder die Sterne glaube, tut das niemandem weh. Schwören Eltern hingegen aufs heilige Rüebli, müssen es die Kinder ausfressen. Solche Religiosität wird gefährlich.
In den Läden gibts rund 170000 verschiedene Lebensmittel zu kaufen. Inwiefern kann man sich durch seine Ernährung von anderen abgrenzen?
Die Ernährung kann ein Identitätsstifter sein. Wir haben immer mehr Stress im Alltag und kompensieren und definieren uns nicht zuletzt übers Essen. Früher sind die Menschen nach Rom gepilgert, haben Ablass und ein Heiligenbildchen gekauft; heute können wir Tausende von Lebensmitteln kaufen und manche Leute suchen darin eine Erlösung.
Es gibt auch Datingforen, die darauf spezialisiert sind, Menschen mit gleichen Essgewohnheiten zusammenzubringen.
Manche treiben die Ernährungsreligion auf die Spitze. So wie eine orthodoxe Jüdin nicht mit einem strenggläubigen Katholiken verheiratet sein kann, können viele Veganer nicht mit Fleischessern zusammenleben. Wir züchten eine Art Ernährungskastensystem heran. In Sachen Ernährung haben die Frauen meist den Lead. Immer mehr Männer werden so zu Teilzeitvegetariern oder -veganern, weil sie sonst zu Hause als Mörder betitelt werden.
Auf Instagram präsentieren Influencer der Welt ihre Teller. Millionen von Followern schauen zu und nehmen sie als Vorbilder in Sachen Lebensstil.
Die meisten Influencer sind zwischen 16 und 25 Jahre alt, daher können sie kaum das nötige Ernährungswissen haben. Oft bewegen sie sich vom einen zum anderen Trend, je nachdem, was gerade opportun ist. Meiner Meinung nach haben die meisten eine Essstörung gehabt. Was wir auf Instagram präsentiert bekommen, ist für mich eine pathologisch verzerrte Welt.
Viele Ernährungstrends zielen auf Selbstoptimierung ab. Was ist für Sie «normal» und was ideologisch?
Ich finde Normalität langweilig. Jeder soll beim Essen seine Besonderheit haben. Für mich beginnt Ideologie, wenn sich jemand schadet, weil der Kopf ständig über den Körper befiehlt und sich nicht mehr von seiner fixierten Meinung abbringen lässt.
Wie kann ich mich als Konsumentin in diesem Ernährungschaos orientieren?
Alles, was auf einem Markt angeboten wird, ist Teil einer gesunden Ernährung. Ein bisschen Gemüse, für die einen Käse, Eier, Fleisch und Fisch, für andere Linsen und weitere Hülsenfrüchte. Ich würde sagen: so wie unsere Grosseltern gegessen haben.