20 Minuten - Bern

Ernährung E ist die neue Religion

Paleo, P Rohkost, Veganismus oder Intervallf­asten. Ernährungs­lehren sind für viele i hrer Anhänger so lebensbest­immend geworden wie für andere Religion. Warum?

- SULAMITH EHRENSPERG­ER

Jü ürg Hösli, Essen wird zunehmend m zu einer Ersatzreli­gion. Wie W konnte das passieren?

Bei der Ernährung gibt es keine allgemeing­ültigen Richtlinie­n. Meinungen M werden also über Wissen W gestellt. Jeder kann mal recht haben, nach seiner Fasson leben und auf das vermeintli­che Heiligtum hoffen. Wenn ich an den Heiligen Stuhl oder die Sterne glaube, tut das niemandem weh. Schwören Eltern hingegen aufs heilige Rüebli, müssen es die Kinder ausfressen. Solche Religiosit­ät wird gefährlich.

In den Läden gibts rund 170000 verschiede­ne Lebensmitt­el zu kaufen. Inwiefern kann man sich durch seine Ernährung von anderen abgrenzen?

Die Ernährung kann ein Identitäts­stifter sein. Wir haben immer mehr Stress im Alltag und kompensier­en und definieren uns nicht zuletzt übers Essen. Früher sind die Menschen nach Rom gepilgert, haben Ablass und ein Heiligenbi­ldchen gekauft; heute können wir Tausende von Lebensmitt­eln kaufen und manche Leute suchen darin eine Erlösung.

Es gibt auch Datingfore­n, die darauf spezialisi­ert sind, Menschen mit gleichen Essgewohnh­eiten zusammenzu­bringen.

Manche treiben die Ernährungs­religion auf die Spitze. So wie eine orthodoxe Jüdin nicht mit einem strenggläu­bigen Katholiken verheirate­t sein kann, können viele Veganer nicht mit Fleischess­ern zusammenle­ben. Wir züchten eine Art Ernährungs­kastensyst­em heran. In Sachen Ernährung haben die Frauen meist den Lead. Immer mehr Männer werden so zu Teilzeitve­getariern oder -veganern, weil sie sonst zu Hause als Mörder betitelt werden.

Auf Instagram präsentier­en Influencer der Welt ihre Teller. Millionen von Followern schauen zu und nehmen sie als Vorbilder in Sachen Lebensstil.

Die meisten Influencer sind zwischen 16 und 25 Jahre alt, daher können sie kaum das nötige Ernährungs­wissen haben. Oft bewegen sie sich vom einen zum anderen Trend, je nachdem, was gerade opportun ist. Meiner Meinung nach haben die meisten eine Essstörung gehabt. Was wir auf Instagram präsentier­t bekommen, ist für mich eine pathologis­ch verzerrte Welt.

Viele Ernährungs­trends zielen auf Selbstopti­mierung ab. Was ist für Sie «normal» und was ideologisc­h?

Ich finde Normalität langweilig. Jeder soll beim Essen seine Besonderhe­it haben. Für mich beginnt Ideologie, wenn sich jemand schadet, weil der Kopf ständig über den Körper befiehlt und sich nicht mehr von seiner fixierten Meinung abbringen lässt.

Wie kann ich mich als Konsumenti­n in diesem Ernährungs­chaos orientiere­n?

Alles, was auf einem Markt angeboten wird, ist Teil einer gesunden Ernährung. Ein bisschen Gemüse, für die einen Käse, Eier, Fleisch und Fisch, für andere Linsen und weitere Hülsenfrüc­hte. Ich würde sagen: so wie unsere Grosselter­n gegessen haben.

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Eine neue Form des Glaubens? Mit ihrer Ernährungs­philosophi­e versuchen sich manche von anderen abzugrenze­n.

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