«Unis reproduzieren zurzeit die Politik»
Claudine Gay ist nach heftiger Kritik von ihrem Posten als Harvard-präsidentin zurückgetreten. Experten ordnen den Fall ein.
Nach nur rund sechs Monaten im Amt trat die erste afroamerikanische Präsidentin in der Geschichte der Us-eliteuniversität Harvard, Claudine Gay (53), letzte Woche zurück. Der Grund: Plagiatsvorwürfe und heftige Kritik an einer Anhörung im Us-kongress. Gay und zwei Hochschulpräsidentinnen mussten sich gegen Vorwürfe verteidigen, nicht genug gegen Antisemitismus auf dem Campus unternommen zu haben. Bei der Kongressanhörung im Dezember antwortete Gay auf die Frage, ob Studierende, die auf dem Campus zum «Völkermord an Juden» aufrufen, gegen die Verhaltensregeln der Unis verstossen würden: «Es hängt vom Kontext ab.» Später entschuldigte sie sich dafür.
Gay sieht sich als Opfer eines rechten Komplotts. Tatsächlich prahlte Christopher Rufo, ein einflussreicher rechter Aktivist, damit, ihr Absturz sei das Ergebnis einer gut organisierten Kampagne gewesen. Die Plagiatsvorwürfe habe man absichtlich platziert. Der konservative Kolumnist Bret Stephens fragte sich in der «New York Times», weshalb Gay eingestellt worden sei. Sie habe in 26 Jahren nur elf Zeitschriftenartikel verfasst und keine bahnbrechenden Forschungsbeiträge geleistet. Stephens warf den Hochschulen Doppelmoral vor. Bei anderen Themen als Israel setzten sie der «freien Meinungsäusserung engere Grenzen». Rechte Politiker werfen den Us-unis aber jetzt auch vor, mit ihren Diversitätsanforderungen nicht die kompetentesten Personen zu fördern.
Seit dem Terrorangriff der Hamas habe sich eine neue politische Dynamik entwickelt, sagt der Politologe Michael Hermann: «Die Rechten machen sich die Werkzeuge der Linken zunutze.» Sie würden wie einst die Linken mit Sprache und Moral argumentieren. Sie forderten, dass Personen wie Gay, «gecancelt» würden. Hermann moniert, dass die Unis homogener geworden seien. Man habe Diversität bezüglich Ethnie und Gender zwar gefördert, gleichzeitig seien Unis politisch einseitiger geworden: «Das akademische Milieu zieht vor allem Linksorientierte an, während Bürgerliche gar nicht studieren oder nach dem Studium andere Karrieren machen. Weil sie an den Unis keinen Einfluss mehr haben, versuchen sie über die Politik Druck aufzubauen.»
Historiker Zsolt Balkanyiguery von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus fordert mehr Wissenschaft und weniger Populismus an den Unis: «Zurzeit reproduzieren sie die Politik.» Das sei nicht die Aufgabe von Hochschulen. «Sie müssen sich zur Neutralität zurückbesinnen.» Studierende seien meist sowieso politische Wesen – nun sei es die Aufgabe der Hochschulen, Studentinnen und Studenten jene Tools zu vermitteln, die sie in der Gesellschaft anwenden könnten.