20 Minuten - Bern

Revolution light mit der Zunge

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Wer hat das Bild nicht schon gesehen, auf dem Albert Einstein 1951, an seinem 72. Geburtstag, dem Fotografen die Zunge herausstre­ckt! Er tat damit etwas, was inzwischen längst Mode geworden ist und vor allem auch von Rockmusike­rn praktizier­t wird. Überhaupt ist die Zunge – innerhalb und ausserhalb des Mundes! – längst als ein so wichtiges Organ erkannt worden, dass der deutsche Autor Florian Werner ihr mit «Die Zunge. Ein Portrait» eine eigentlich­e Biografie widmen konnte. Da wird der schnelle Muskel in unserem Mund nicht nur als Medium einer «Revolution light» à la Einstein, sondern in vielen weiteren Zusammenhä­ngen originell und sachkundig dargestell­t. Als Organ zum Lecken, Schlecken, Schmecken, Schnalzen und natürlich auch zum Küssen – jene Momente, «in denen die Zunge sich auf die so lust- wie gefahrvoll­e Passage in die Tiefen eines fremden Subjekts begibt»! Harmloser ist die Rolle, die die Zunge beim Sprechen spielt, wo sie zum Lallen und für die Aussprache von lo und li in Aktion tritt. Ärger kann sich übrigens einbrocken, wer «mit gespaltene­r Zunge» spricht, und im Horrorfilm ist eine abgeschnit­tene Zunge etwas vom Grausigste­n, was es gibt. Tröstlich darum die Geschichte, die Elias Canettis Autobiogra­fie «Die gerettete Zunge» von 1979 den Titel gegeben hat: Er war noch ganz klein und befand sich auf dem Arm seines Kindermädc­hens, als ein Mann mit den Worten «Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab» auf ihn zutrat, aber im letzten Moment sagte: «Heute noch nicht, morgen!» florian Werner: «Die Zunge. ein Portrait». Hanser Berlin, fr. 28,80

Charles Linsmayer ist seit jeher besessener Leser. In seiner Bücherkolu­mne rezensiert der Zürcher Journalist und Publizist Neuerschei­nungen und Klassiker.

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