Liebe, Schuld und Trauer
«Noch jetzt beneide ich den Toten darum, wie zärtlich ihn Ruth gehalten hat.» Erich hiess der Tote, und mit dem Erzähler zusammen war er Schüler eines Internats, von dem aus der Blick auf den wuchtigen Staudamm eines Elektrizitätswerks geht. Es sind die späten 1960er-jahre, und der etwas linkische Erich, ein Jude, wird von den autoritären Lehrern immer wieder blossgestellt, gilt aber auch den Kollegen als verschwiegener Sonderling. Und doch trifft ausgerechnet er sich als Einziger mit einer Freundin. Bis er einen Brief von ihr erhält, in dem sie sich von ihm lossagt. Tags darauf bekommen die Mitschüler von weitem mit, wie Erich, jenen Brief in der Hand, dem Rand der Staumauer entlangläuft, verfolgt von Ruth, die ihm etwas sagen will, aber nicht verhindern kann, dass er sich unversehens in die Tiefe stürzt. Kurz darauf dann hält Ruth den Toten unten am Wehr zärtlich in den Armen. Dem namenlosen Ich-erzähler des 2001 erstmals publizierten Romans «Und Ruth» von Urs Faes aber lässt dieses Bild keine Ruhe. In einem imaginären Gespräch mit Ruth, die auch er heimlich geliebt hat, versucht er Jahre später darüber hinwegzukommen. Bis er auf den letzten Seiten des erschütternden Liebesund Internatsromans wieder vor dem Staudamm steht und sich und ihr gesteht, damals den fatalen Brief gefälscht zu haben. «Soll ich da hinaufsteigen, auf diesen Steg», fragt er die imaginäre Gesprächspartnerin voll Verzweiflung und Selbstverachtung, «und du könntest endlich sagen, das Scheusal ist tot?» Urs faes: «Und Ruth». Roman. suhrkamp taschenbuch, fr. 13,90
Charles Linsmayer ist seit jeher besessener Leser. In seiner Bücherkolumne rezensiert der Zürcher Journalist und Publizist Neuerscheinungen und Klassiker.