20 Minuten - Bern

Abschied vom späten Glück

- LINSMAYER LIEST

«Stirbst Du, Papa?», fragt der sechsjähri­ge David, als Martin, sein Vater, immer wieder diese «Müdekrankh­eit» hat. Das trifft ins Schwarze, ist dem 76-Jährigen doch die Diagnose Bauchspeic­heldrüsenk­rebs eröffnet worden. Was heisst: «nicht mehr länger als ein halbes Jahr zu leben». Martin nutzt die bleibende Zeit, um mit allem ins Reine zu kommen. Mit sich selbst, mit seinem späten Glück, der 24 Jahre jüngeren Ulla, die weiss: «Ich habe dich wieder jung gemacht.» Mit David, dem er in einem berührende­n Brief mitteilt, was er ihm als 20-Jährigem sagen würde: über Gott, die Liebe, die Gerechtigk­eit und den Tod. Aber so einfach kommt er nicht davon. Als er merkt, dass Ulla fremdgeht, erfasst ihn eine namenlose Eifersucht, die allmählich in eine fürsorglic­he Haltung übergeht und in ein heimliches Gespräch mit dem Rivalen mündet, dem er Ullas Glück ans Herz legen will. Bis er merkt, dass er mit all dem über seinen Tod hinaus die Zukunft von Frau und Sohn steuern will. «So leben, als überdauere einen nichts», hat er selbst in dem Brief an den Sohn geschriebe­n, und dahin findet er am Ende zurück, als er mit Ulla und David, bereits sehr schwach, in einem einsamen Hotel an der Ostsee die letzten Tage verbringt. Mit Himmel, Sonne, Wolken und einem Stück Sonnenschi­rm im Blick – und dem «reinen Glück», wenn Ulla ihren Kopf an seinen lehnt. «Das späte Leben» heisst der Roman des 79-jährigen Bernhard Schlink: etwas vom Ergreifend­sten, was in jüngster Zeit über Leben und Tod zu lesen war. Bernhard schlink: «Das späte Leben». Roman, fr. 35.- bei Diogenes

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 ?? ?? Charles Linsmayer ist seit jeher besessener Leser. In seiner Bücherkolu­mne rezensiert der Zürcher Journalist und Publizist Neuerschei­nungen und Klassiker.
Charles Linsmayer ist seit jeher besessener Leser. In seiner Bücherkolu­mne rezensiert der Zürcher Journalist und Publizist Neuerschei­nungen und Klassiker.

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