«Auch 500 000 neue Soldaten reichen nicht»
Was hat es mit den erzwungenen Rekrutierungen auf sich? Verhält sich die Ukraine am Ende nicht besser als Russland? «In der Ukraine passieren unter Zwang und unter Druck auch Dinge, die das Bild einer demokratischen und transparenten Ukraine einfärben, die auf dem Weg der Verwestlichung und Europäisierung ist», sagt André Härtel, Ukraineund Sicherheitsexperte. «Wenn man sich aber in einem existenziellen Kampf befindet, werden viele Standards aus Friedenszeiten schnell nicht mehr eingehalten.»
Es sei zwar wahrscheinlich, dass es neben der Korruption in der ukrainischen Einberufungsbehörde immer wieder Massnahmen der Zwangsrekrutierung gegeben habe und gebe – «doch wir wissen nicht, wie systematisch diese sind». Es gebe jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mobilisierung in der Ukraine Formen annehme, wie sie in Russland zu beobachten seien: «Dort werden in einer Schattenmobilisierung täglich mehrere Hundert Mann ausgehoben.» Nach Angaben von Präsident Wladimir Putin liegt die Gesamtzahl der russischen Soldaten im Kriegsgebiet bei 617 000. Experten halten das für zu hoch gegriffen.
Dem stehen in der Ukraine die Diskussionen um eine Einberufung von bis zu 500000 Mann gegenüber. «Doch auch das wird angesichts der russischen Mobilisierungsmöglichkeiten den Kriegsverlauf nicht herumreissen. Denn trotz westlicher Waffenlieferung ist es immer noch ein stark asymmetrischer Krieg», sagt Härtel.
Ginge es allein um Manpower und die militärischen Kapazitäten
beider Staaten, würde sich Russland auf Dauer immer durchsetzen. Der Ukraine bleibe aber nichts anderes übrig, als sich diesem ungleichen Kampf zu stellen.
Dabei müsse Kiew versuchen, Zeit zu gewinnen – und auf Faktoren hoffen, auf die man wenig Einfluss habe: die westlichen Waffenlieferungen, die weltweite Diplomatie für einen Friedensplan und die langfristige Wirkung der Sanktionen gegen Russland.
«Das Ziel ist, dass man das Kosten-nutzen-kalkül Putins mit der Zeit so verändern kann, dass er sich doch auf Verhandlungen einlässt und von seinen Maximalforderungen abkommt», sagt Härtel.