Zwangsmobilisierung in der Ukraine?
Die ukrainische Armee hat ein Personalproblem. Junge Männer fürchten sich, auf der Strasse zur Registrierung abgefangen zu werden.
Russland drückt an der 1500 Kilometer langen Frontlinie und die Ukraine benötigt dringend mehr westliche Militärhilfen. Es ist eine düstere Lage für Kiew, weiter belastet vom Zwist zwischen Präsident Wolodimir Selenski und Armeechef Waleri Saluschni. Die angeblich unmittelbar bevorstehende Entlassung des Oberbefehlshabers ist im Land derzeit das Thema Nummer eins.
Das einstige Erfolgsduo streitet um die weitere Strategie im Abwehrkampf gegen Russland.
Ein grosser Punkt ist dabei die Rekrutierung von Soldaten. Doch eine Lösung des drängenden Personalproblems der Armee ist nicht in Sicht. Während Militär und Politik in Kiew zanken, schaffen die Rekrutierungsbüros unter dem geltenden Kriegsrecht im Osten und Süden des Landes Fakten. Junge Männer werden schon seit Monaten auf offener Strasse abgefangen und zur Registrierung in die Armee mitgenommen. In Städten wie Dnipro verlassen junge Männer die
Wohnung tagsüber nicht mehr aus Angst, in eine Kontrolle zu geraten und vom Fleck weg ins Training geschickt zu werden.
Vor einigen Tagen sorgte das Video eines Kommandanten der 118. Brigade der territorialen Verteidigungskräfte für Wut und Entsetzen. Mit Blick auf die fehlenden neuen Kräfte meinte er: Ukrainern, die sich weigern, auf Aufforderung von Militärkommissaren aus dem Auto auszusteigen, solle ins Knie geschossen werden. Kein Wunder, haben sich im Internet mittlerweile Zehntausende zu Chatgruppen zusammengetan, in denen vor Orten mit Einberufungsteams gewarnt wird. Andere setzen auf Geld. «Ich fahre
Taxi, damit ich ein gefälschtes Gesundheitsattest kaufen kann», so ein 28-Jähriger aus Kiew zu 20 Minuten. «Das kostet zwischen 4000 und 5000 Dollar.» Näher ins Detail wollte er nicht gehen, sagte aber: «Ich will nicht ins Ausland fliehen, aber auch nicht an der Front sterben.» Möglich, dass der junge Mann sich das zu einfach vorstellt. Wegen der grassierenden Korruption hat Präsident Selenski letztes Jahr die Leiter aller 24 Wehrämter auf einen Schlag entlassen. Dadurch ist die Mobilisierung zusätzlich ins Stocken geraten – und der Preis für gefälschte Untauglichkeitsatteste hat sich deshalb vervielfacht.