Tauben stürzen vom Himmel
Ein Mann erzählt, wie er auf die Nachricht vom Tod des Vaters ins Welschland reist, um die Wohnung zu räumen. Dabei stösst er auf ein Manuskript mit dem Titel «Die Rache der Tauben» aus dem Jahre 2002. Der Vater, mit dem er sich nie verstanden hat, berichtet darin von einem Ohrenleiden und einer gescheiterten Operation, die ihn vollkommen taub zurückliess. Nicht nur die Ansichten des Sohnes, die mit der Trostlosigkeit der ländlichen, nach Mist und Gülle riechenden Umgebung konform gehen, auch die in dem zitierten Text spürbare Haltung des Vaters besitzt etwas absolut Lebensverneinendes, Hoffnungsloses. Etwas, was weniger in der Sprache als in der Atmosphäre und der Drastik des Geschehens an Texte von Kafka oder Daniil Charms erinnert. Die Tauben, diese «Ratten der Lüfte», stürzen in Delta-formation vom Himmel und versetzen den taub Gewordenen, der mit der Pistole auf sie schiesst, in einen Blutrausch, bis er «mit einem leisen gellenden Schrei vom Balkon stürzt». Ob auch der Sohn am Ende in einen tödlichen Unfall verwickelt wird oder nicht, bleibt unklar. Sicher ist nur, dass dieser Michael Reifig, dem der mutige Verleger Thomas Howald für «Die Rache der Tauben» Obdach gewährt, bei allen Mängeln im Detail etwas vorlegt, das all dem Netten und Harmlosen, das in jüngster Zeit als Schweizer Literatur Erfolg hat, wieder mal etwas entgegenstellt, was erschreckt und provoziert und nicht schlecht zu dem passt, was uns an Fürchterlichem täglich vor Augen geführt wird.
«Die Rache der Tauben», Michael Reifig, Edition Howeg, Fr. 39.
Charles Linsmayer ist seit jeher besessener Leser. In seiner Bücherkolumne rezensiert der Zürcher Journalist und Publizist Neuerscheinungen und Klassiker.