Wichtig ist, kein Hund zu sein
«Für das Leben braucht man keine Liebe», sagt Mutter zu Aljoschka, von dem sie endlich Enkel haben will und der seit zwei Jahren im Tschum, dem Zelt aus Rentierfellen, neben seiner Frau liegt, ohne sie zu berühren. «Wichtig ist nur, dass man kein Hund ist.» Nein, die alte Frau begreift nicht, dass Aljoschka sich Ilne verpflichtet fühlt! In der einzigen keuschen Nacht, als er neben ihr lag, hat er geschworen: die oder keine. Sodass die von Mutter arrangierte Heirat für ihn eine «Beerdigungshochzeit» war, in der die Liebe zu Ilne beerdigt wurde. Am liebsten würde er zu ihr in die Stadt ziehen, weg von der sibirischen Halbinsel Yamal und dem Volk der Nenzen, für das Bäume beseelte Wesen sind und das sein Nomadentum zäh gegen die Integrationspolitik der Russen verteidigt. Die aufgezwungene Ehefrau aber lässt sich nicht zu den Eltern zurückschicken, führt mit Mutter zusammen den Haushalt, errichtet an den Lagerplätzen den Tschum, und nur nachts lässt sie der Frustration freien Lauf, sodass ihr Gesicht am Morgen ganz nass ist. Aljoschka sieht es, und obwohl ihn die Sehnsucht nach Ilne nicht loslässt, berührt ihn die Tapferkeit der jungen Frau, bis er eines Morgens von der Rentierweide in den Tschum zurückkehrt und die zwei Frauen ihn, das Familienoberhaupt, mit niedergeschlagenen Augen erwarten. Da kündigt sich eine Versöhnung an, die Anna Nerkagi, die bisher einzige Schriftstellerin aus dem Volk der Nenzen, in ihrem bewegenden Roman «Weisse Rentierflechte» nur noch andeutet.
Anna Nerkagi: «Weisse Rentierflechte», fr. 19.90 bei Orell füssli
Charles Linsmayer ist seit jeher besessener Leser. In seiner Bücherkolumne rezensiert der Zürcher Journalist und Publizist Neuerscheinungen und Klassiker.