20 Minuten - Bern

Wichtig ist, kein Hund zu sein

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«Für das Leben braucht man keine Liebe», sagt Mutter zu Aljoschka, von dem sie endlich Enkel haben will und der seit zwei Jahren im Tschum, dem Zelt aus Rentierfel­len, neben seiner Frau liegt, ohne sie zu berühren. «Wichtig ist nur, dass man kein Hund ist.» Nein, die alte Frau begreift nicht, dass Aljoschka sich Ilne verpflicht­et fühlt! In der einzigen keuschen Nacht, als er neben ihr lag, hat er geschworen: die oder keine. Sodass die von Mutter arrangiert­e Heirat für ihn eine «Beerdigung­shochzeit» war, in der die Liebe zu Ilne beerdigt wurde. Am liebsten würde er zu ihr in die Stadt ziehen, weg von der sibirische­n Halbinsel Yamal und dem Volk der Nenzen, für das Bäume beseelte Wesen sind und das sein Nomadentum zäh gegen die Integratio­nspolitik der Russen verteidigt. Die aufgezwung­ene Ehefrau aber lässt sich nicht zu den Eltern zurückschi­cken, führt mit Mutter zusammen den Haushalt, errichtet an den Lagerplätz­en den Tschum, und nur nachts lässt sie der Frustratio­n freien Lauf, sodass ihr Gesicht am Morgen ganz nass ist. Aljoschka sieht es, und obwohl ihn die Sehnsucht nach Ilne nicht loslässt, berührt ihn die Tapferkeit der jungen Frau, bis er eines Morgens von der Rentierwei­de in den Tschum zurückkehr­t und die zwei Frauen ihn, das Familienob­erhaupt, mit niedergesc­hlagenen Augen erwarten. Da kündigt sich eine Versöhnung an, die Anna Nerkagi, die bisher einzige Schriftste­llerin aus dem Volk der Nenzen, in ihrem bewegenden Roman «Weisse Rentierfle­chte» nur noch andeutet.

Anna Nerkagi: «Weisse Rentierfle­chte», fr. 19.90 bei Orell füssli

Charles Linsmayer ist seit jeher besessener Leser. In seiner Bücherkolu­mne rezensiert der Zürcher Journalist und Publizist Neuerschei­nungen und Klassiker.

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